Verena Carl: Die Lichter unter uns, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2018, 318 Seiten, €20,00, 978-3-10-397363-1

„Es gab Menschen, die änderten ihr Leben aus Liebe. Es gab Menschen, die änderten es, weil sie einer plötzlichen Berufung folgten. Es gab die, die es aus Angst änderten, oder aus Wut.“

Anna befindet sich mit ihrer Familie, Ehemann Jo, der zehnjährigen Tochter Judith und dem jüngeren Sohn Bruno, in der zweiten Urlaubswoche in Taormina. Es ist Herbst und am gleichen Ort verbrachten Anna und Jo vor zwölf Jahren ihre Hochzeitsreise. Die Hamburger Familie wohnt nicht in einem komfortablen Hotel, sondern in einer nicht gerade schönen Ferienwohnung. Die Verlängerung des Sommers schleppt sich so dahin, Anna ist nicht sonderlich glücklich, die Finanzlage der Familie ist angespannt, Judith total auf den Vater, der ständig mit seinem Smartphone spielt, fixiert. Anna ist maßlos genervt von Judiths vorpubertären Ausrastern. Natürlich ist Anna keine Hausfrau, sondern freiberufliche Journalistin, deren Aufträge jedoch minimal sind. Jo arbeitet in einer Werbeagentur und hangelt sich ohne finanzielle Sicherheit von Projekt zu Projekt, dabei scheint es so zu sein, als sähe sich der Agenturchef nach Käufern um. Dabei lebt die Familie in der mit der Hilfe von den Eltern finanzierten Eigentumswohnung immer leicht über ihre Verhältnisse.

Sprachlich anziehend beschreibt Verena Carl das Innenleben von Anna, die ihr Lebenskonzept durchdenkt, ihre Arbeit, ihre zunehmenden Rundungen an Po und Hüfte, ihre steigende Unzufriedenheit und Müdigkeit. Als sie im Restaurant Alexander von Leppin, seine junge Freundin Zoe und seinen Sohn Fabian beobachtet, ist sie von der Ausstrahlung der drei, speziell Alexanders fasziniert. Mit dem Gefühl unsichtbar zu sein, denkt Anna, dass diese wohlhabenden Personen ein besseres, ja viel glücklicheres Leben führen müssten. Zum ersten Mal fragt sie sich, wen sie da eigentlich geheiratet hat und warum ihr das nie wichtig war. Als Judith während eines Ausflugs nicht auf Bruno acht gibt, scheint sich ein Unglück anzubahnen.

„Sie wusste, was Judith von ihr erwartete. Was jeder von ihr erwartete, was eine gute Mutter zu tun hatte. Die Arme ausbreiten, so weit, dass sie darin Platz hatten, die reuige Tochter, der verlorene Sohn, der gute Vater. Alles streicheln und liebkosen, was ihr unter die Hände kam, lachen, fluchen, dankbar sein. Sie streckte die Hand aus und reichte Judith das glatte, verschlossene Päckchen.“

In dem kurzen Schlusssatz, dieser Geste liegt alles, was Anna fühlt und ausdrücken kann. Und das ist die Schreibkunst dieser Autorin, sie erzählt und lässt Lücken einfach offen. Der Leser ist gefragt und ahnt, was in den Figuren vor sich geht.

In einer zweiten Erzählebene schaut der Leser dann in Alexanders Alltag und erfährt, dass der Zweiundfünfzigjährige durchaus nicht nur gesundheitliche Probleme hat. Seine Frau Katharina ist verstorben, die neue schwangere viel jüngere Frau Zoe hat hinter seinem Rücken ein Verhältnis mit seinem Sohn Fabian, der längst nicht mehr zur Uni geht und in der Angst lebt, der Vater könnte ihm die Schecks sperren.

Als Anna mit Alexander am Pool ins Gespräch kommt, wechselt wieder die Perspektive und der Leser erfährt, was Zoe über Anna und ihre Familie denkt.
Immer wieder dreht sich in den einzelnen Szenen alles um die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, zwischen Alexander und Fabian, die z.B. eine Vulkantour unternehmen und kläglich scheitern.

Alle Figuren sind bei Verena Carl an dem Punkt angekommen, an dem sie sich im Moment noch unaufgeregt fragen, führen wir wirklich das Leben, das wir führen wollen. Antworten werden nicht gegeben, aber Denkanstöße.