Dimitri Verhulst: Die letzte Liebe meiner Mutter, Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten, Luchterhand Literaturverlag, München 2011, 191 Seiten, €16,99, 978-3-630-87355-8

„Jimmy hatte sich blitzschnell neben seine Mutter gesetzt, an den Platz, der ihm von jeher gebührte: der neben ihr. Solange er denken konnte. Bis Wannes in ihr – seiner Mutter – Leben trat.“

Martine Withofs ist eine junge, schüchterne wie schamhafte Frau, die seit jeher ein eingeengtes und unsicheres Leben geführt hat. Die zehn tristen Jahre an der Seite eines Alkoholikers haben sie zwar abgestumpft, jedoch auch zu einer findigen Frau gemacht, die immer wieder für ihren Sohn Jimmy etwas Geld abzweigen konnte. Doch kaum hatte sich Martine getrennt, zieht auch schon Wannes, der Neue, in ihre Wohnung ein. Für den 11-jährigen Jimmy scheint nun kein Platz mehr an Martines Seite zu sein. Wannes ist ein einfacher Fließbandarbeiter, ein beschränkter Kleingeist. Martine jedoch himmelt ihn an. Und als Wannes auch noch vorschlägt eine Busreise in den Schwarzwald zu unternehmen, scheint, trotz aller Bedenken, das Glück perfekt. Detailreich, geradezu minutiös und ironisch beschreibt der flämisch-belgische Romancier Dimitri Verhulst die dumpfen Verhältnisse der sogenannten kleinen Leute. Rabattmarken, Puzzle und die Fernsehserie „Home is where my children cry“ beeinflussen das Wohlbefinden von Jimmys Mutter. Der unsympathische Wannes hingegen fühlt sich als Opfer, denn er geht eine Beziehung mit einer älteren Frau ein, die auch noch ein Kind in die geplante Ehe mitbringt. Erst spät wird dem Leser klar, dass Martine erneut schwanger ist. Um bei der Reise ein seriöses Bild abzugeben, soll Jimmy den verhassten Wannes Vater nennen. Jimmy hat wenig Lust auf Lügen und „heile Familien“ – Theater und beschließt, seinen „Vater“ zu ignorieren und kein Wort mehr an ihn zu richten. Die Dramen sind vorprogrammiert. Im weiteren Verlauf der einwöchigen Reise wirft der Autor einen lakonischen Blick auf die typische Busreise-Unkultur, zeigt die verunsicherte Martine, die sogar ihr Putzmittel mit in den Urlaub nimmt, um vor Ort erstmal zu wienern. Jimmy hält sich nicht an die Spielregeln und in Rückblicken wird klar, er geht als starker Charakter keiner Konfrontation aus dem Wege. Diskussionen über eine mögliche europäische Union, den ersten McDonalds und die DDR offenbaren vieles über den geistigen Zustand der Reisegruppenmitglieder in den 1980er Jahren. Nach und nach spitzt sich der Konflikt zwischen Wannes und Jimmy dramatisch zu. Der Junge hängt mit den Händen in einer steilen Schwarzwälder Felswand und Wannes steht über ihm- ein klarer Wendepunkt und das Ende einer Kindheit. Wie Wannes es geschafft hat, den unliebsamen Stiefsohn loszuwerden, bleibt im Ungewissen. Dass Martine jedoch keine Kraft mehr hat, sich gegen den neuen Mann zu stellen, von dem sie ein Kind bekommt, erscheint tief tragisch. Am Ende wird in der Wohnung von Martine eine Kuckucksuhr hängen, die sie sich übermütig mal ohne aufs Geld zu schauen gekauft hat. Jimmy jedoch soll die Zeitansagen nicht mehr hören.
Überraschend schlägt der Autor einen Bogen und beleuchtet am Romanende achtzig Jahr nach den geschilderten Ereignissen Jimmys Lebensweg, der so völlig anders verlaufen ist, als es sich der Leser vielleicht vorgestellt hat. Nie werden die überzeugenden Figuren von Dimitri Verhulst zu Karikaturen, sie wirken echt in allem was sie tun und denken.
Fragen bleiben offen und beschäftigen den Leser noch lang nachdem er die letzte Seite des exzellent geschriebenen Romans gelesen hat.