Cecilie Enger: Die Geschenke meiner Mutter, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014, 272 Seiten, €18,99, 978-3-421-04652-9
„Die Geschenke beschäftigen mich mehr und mehr. Ich kann mich in die Listen vertiefen wie in einen Film, mich hineinversetzen oder sie nur vage überfliegen. Ich setze mich nach einem Arbeitstag auf ein Sofa und möchte die Blätter für einige Minuten in Händen halten. Als böten sie mir ein Pforte zu Mutters Bewusstsein.“
Cecilie Enger erzählt die Geschichte ihrer Familie. Sie berichtet von ihrer streitbaren, kunstinteressierten Mutter, die, nachdem sie sich jahrelang der Erziehung der Kinder gewidmet hatte, ihre gesellschaftskritische Seite entdeckte: gegen den EG-Eintritt Norwegens, gegen Noten in der Schule oder den Abriss der Jugendzentren. Immer gab es Auseinandersetzungen zwischen Cecilie und ihrer Mutter, nie waren sie einer Meinung. Jetzt kann die Autorin nichts mehr mit ihrer Mutter besprechen, denn sie lebt seit längerem in einem Fürsorgezentrum und leidet an Alzheimer.
Nach den Jahren des scheinbaren Familienglücks lassen sich die Eltern scheiden. Als Cecilie gut siebenundzwanzig Jahre nach der Trennung der Eltern das ehemals gemeinsame, nun ziemlich heruntergekommene Haus ausräumt, entdeckt sie eine Papiersammlung mit Aufzeichnungen der Mutter. Akribisch hat sie alle Weihnachtsgeschenke festgehalten, die sie an die Familienmitglieder verschenkt hat. Es wurden Bücher fein säuberlich eingewickelt, aber auch praktische Dinge fürs Haus, es gab ausgewählte Bilder oder Schmuck, aber auch Schallplatten oder Kleidung. Mit Wehmut fragt sich die Autorin, was bleibt von all den Erinnerungen an gemeinsame Feste? Mit den Listen der Mutter kann sie vieles rekonstruieren und vor allem auch Vergleiche ziehen, was wann wem geschenkt wurde.
„Wenn ich die sorgsam durchdachten Geschenke auf Mutters Liste ansehe, fühle ich mich um ihretwillen verletzt. Sie hat so viel Engagement, Erwartung und Persönlichkeit in die Geschenke gesteckt. Sie war oft gespannter als ich, wenn ich als Erwachsene ein Geschenk von ihr auspackte.“
Cecilies Mutter machte sich viele Gedanken darum, was sie ihren Eltern schenken sollte. Indem die Autorin nach und nach die Weihnachtsfeste beschreibt, fächtert sie auch ihre eigene Familiengeschichte auf. Sie erzählt von glücklichen wie tragischen Ereignisse in der Familie, von Gesprächen zwischen den Geschwistern und Verwandten und von den Ritualen des Schenkens ganz allgemein.
„Marcel Mauss behauptet, wir rivalisieren durch unsere Geschenke, unsere Hochzeiten und noch durch die bescheidensten Einladungen. Und fühlten uns zur Gegenleistung verpflichtet.“
Unterbrochen werden die Erinnerungen von den Besuchen bei der verwirrten Mutter, die die Tochter durch ihre aggressiven Attacken stark verunsichert und kränkt.\r\nImmer wieder jedoch berühren die Erinnerungen an Familienmitglieder, die die Mutter beschenkt hat, ohne dass man sie genau kannte oder etwas erwartete, z.B. von dem Onkel, der nach fünfzig Jahren USA-Aufenthalt zurück nach Norwegen kam. Er hatte mit seinem Bruder gemeinsam hart gearbeitet, um all sein Erspartes wieder zu verlieren. Nie hat er sich gebunden, denn er wollte ja wieder in die Heimat mit seinem hart erarbeiteten Geld zurückkehren. Aber das Leben ging einfach so vorbei.
Cecilie Enger entwirft durch die Weihnachtslisten der Mutter einen sozialgesellschaftlichen Rückblick, der von den 1960-Jahren bis zum Beginn unseres Jahrhunderts reicht. Die Autorin bleibt nah an ihrer Familie, erzählt spannend und informationsreich, aber sie wahrt diskret, und das ist die Kunst, deren Privatsphäre.
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