Håkan Nesser: Die Einsamen – Ein Fall für Inspektor Barbarotti, Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt, btb, München 2011, 605 Seiten, €19,99, 978-3-442-75313-0
„Dahinter ist eine Geschichte verborgen. Eine Geschichte, der wir nicht mal ansatzweise näher kommen.“
Der schwedische Autor Håkan Nesser lässt seinen Leser ziemlich hilflos zurück. Nachdem dieser in Windeseile die letzten Seiten verschlungen hat und nun auch Prolog und Epilog in einen Zusammenhang mit einer der sechs wichtigen Figuren in diesem Krimi bringen kann, lässt die Geschichte ihn nicht los. Und doch – wie immer war der Leser auf der falschen Fährte und wie immer kreist die Handlung in Gegenwart und Vergangenheit nicht nur um die beiden Fälle, sondern um die Schwächen, Geheimnisse und das schuldig werden der Handelnden.
Alle Hauptfiguren, Maria, Germuth, Gunilla, Thomas, Rickard und Anna gehen mit besten Voraussetzungen, alle Anfang 20, an den Start für ein glückliches Leben. Maria Winckler und Germuth Grooth, die beiden seltsamen Außenseiter und Intellektuellen mögen die Ausnahmen sein. Gunilla und Tomas lernen sich kennen und es scheint die große Liebe zu sein. Gunilla gibt alles auf, verlässt ihren Jugendfreund, der die Trennung nicht verkraftet und den Freitod wählt. Rickard findet Anna und auch sie passen auf den ersten Blick wunderbar zueinander. Er wird Pfarrer, hat einen großen Lebensplan und kann diesen mit der stillen Anna, die als Journalistin arbeiten wird, umsetzen. Scheint der Leser mit den Figuren vertrauter als später die ermittelnden Beamten Barbarotto und Backman, so weiß er doch am Ende, dass ihm so einige Widersprüchlichkeiten und Traumata entgangen sind.
Bei der kompliziertesten Figur, Maria, die sich der Spatz nennt, darf der Leser genauer hinschauen. Sie führt Tagebuch und schreibt unumwunden von ihren egozentrischen Gefühlen und abseitigen Gedanken.
Gegenwart: Ein Mann um die sechzig wird in der Gänseschlucht tot aufgefunden. Ist er den Hang hinabgestürzt oder wurde er gestoßen? Vor genau 35 Jahren ist ebenfalls eine Frau an gleicher Stelle zu Tode gekommen – Maria Winckler. Der Tote ist ihr damaliger Lebensgefährte Germuth Grooth.
Håkan Nesser wechselt die Perspektiven und die Zeiten, erzählt mal von den schwierigen auf der Stelle tretenden Ermittlungen und dann wieder von den unterschiedlichen Lebenskonzepten der Hauptfiguren, die alle verdächtig sind. Dabei ufern seine Rückblenden szenenweise aus, kreisen immer wieder um die gleichen Konflikte und bringen auch den Leser nicht weiter, der mehr als die Ermittler zu wissen scheint.
Die gemeinsame Sommertour mit einem selbst finanzierten Bus nach Osteuropa im Jahre 1972 beginnt voller Hoffnungen und endet in einem Disaster. Dieses wird totgeschwiegen und entzweit die Freunde für immer.
Wie wird man schuldig ohne wirklich Schuld zu haben? Alle Figuren entscheiden sich dafür über das, was geschehen ist, zu schweigen – Schweigen als Abwehr. \r\nJeder Lebensentwurf wird auf die eine oder andere Weise in die Brüche gehen. Einsam sind alle Figuren, die Håkan Nesser in dieser Konstellation auftreten lässt und auch Inspektor Barbarotti spürt die Einsamkeit und Vergänglichkeit. Als seine Lebensgefährtin Marianne eine Hirnblutung erleidet, hadert er genauso wie Rickard mit seinem Gott.
Håkan Nesser fesselt seinen Leser von der ersten bis zur letzten Seite und nimmt ihn mit auf eine Achterbahn der Gefühlsregungen und Lebenslügen.
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