Anne Tyler: Der leuchten blaue Faden, Aus dem Englischen von Ursula-Maria Mössner, Verlag Kein & Aber Pocket, Zürich 2016, 448 Seiten, €13,00,978-3-0369-5939-9

„All diese Enttäuschungen schienen der Aufmerksamkeit der Familie jedoch zu entgehen. Und das war eine weitere Marotte von ihnen: Sie besaßen das Talent so zu tun, als ob alles bestens wäre. Vielleicht war es gar keine Marotte. Vielleicht war es nur ein weiterer Beweis, dass die Whitshanks in keinster Weise bemerkenswert waren.“

Niemand schreibt so genau beobachtend und eindringlich über Familien wie Anne Tyler. Unmerklich zieht die amerikanische Autorin den Leser mit ihrem Erzählfaden, der einen bestimmten Personenkreis festhält, mit dem ersten Satz in die Handlung hinein und hält ihn fest bis zur letzten Seite. Schauplatz wie so oft ist Baltimore. Diesmal ist es die Familie Whitshank mit Abby und Red als Eltern. Red führt ein Bauunternehmen, die umtriebige Abby, die allen Kindern besonders in der Phase der Pubertät mit ihrer Distanzlosigkeit und ihrem ständig guten Willen maßlos peinlich ist, arbeitet in sozialen Einrichtungen und versammelt ihre Schützlinge gern zum Essen in ihrem Haus. Beide haben vier Kinder: Amanda, Jeannie, Denny und Stem. Umgeben von Tulpenbäumen, die im Sommer für den nötigen Schatten sorgen, steht ihr Haus mit der großzügig geschnittenen und imposanten Veranda im besseren Viertel der Stadt. Wie in so vielen Familien gibt es bei den Whitshanks Geschichten, die von Generation zu Generation getragen werden. Eine handelt vom Erwerb dieses Hauses durch den Vater von Red, einen einfachen Handwerker, der sich in dieses Haus verliebt hatte und mit seinem gegründeten Bauunternehmen sich dann in der Lage sah, es vom ursprünglichen Eigentümer zu erwerben. Spielt der erste Teil des Romans in der nahen Gegenwart, Abby und Red werden langsam alt und die Kinder sind erwachsen und leben in der Nähe ( außer Denny ) ihr eigenes Leben, so schaut die Autorin in den folgenden Teilen auf die Altvorderen und die Legenden, die in keinster Weise der Wahrheit entsprechen.

Alles beginnt mit einem Telefonat von Denny, dem Außenseiter in der Familie, dem Sorgenkind. Er behauptet, er sie schwul. Abby und Red beginnen ein typisches Gespräch, in dem einer dem anderen hilflos seine Fehler vorwirft. Abby habe, so ihr Ehemann, ihn zu sehr verwöhnt. Dabei ist Reds Lieblingskind der Jüngste, Stem, auch wenn er nicht sein eigener Sohn ist. Aber diese Geschichte mit all ihren Geheimnissen folgt erst Seiten später. Der ausgeglichene Stem ist für Red der Fels in der Brandung, für Denny jedoch ewiger Streitpunkt für Eifersucht und Neid. Ein Rückruf ist nicht möglich, denn niemand hat Dennys Nummer. Später wird Denny dann mit Frau und Kind erscheinen und sogar heiraten, auch wenn die Ehe, wie alle vermuteten, nicht lang hält. Denny springt von einem Job zum nächsten, er kümmert sich um seine Tochter und nimmt sogar mit ihr an den traditionellen Strandurlauben der Familie teil.
Die Zeit vergeht mit den üblichen nicht gerade spektakulären Tätigkeiten, die das Leben ausmachen, die Enkelkinder toben durchs Haus, Abby umsorgt alle und doch schleichen sich langsam Krankheit und Tod ins Familienleben. Abby, die ab einem bestimmten Alter sich jeglicher Arztbesuche verweigert, wird langsam wunderlich und Red nervt alle mit seiner Schwerhörigkeit und seiner gefährlich gewordenen Arbeitswut. Stem und Nora, seine religiöse und extrem in sich ruhende Frau, ziehen mit ihren drei Jungen ins Haus der Eltern. Und plötzlich ist Denny da und sorgt wie immer für Spannungen und Konflikte. Als Abby plötzlich stirbt, hält kein Band die Familienstruktur mehr zusammen und das so lang umsorgte Haus verliert an Bedeutung.

Anne Tyler bezeichnet sich als Chronistin der Gesellschaft, aber sie ist weit mehr, denn ihre große Stärke sind ihre Figuren, die sie erschafft und die beim Lesen vor dem inneren Augen unweigerlich lebendig werden. Vermeintlich glaubt man sie zu durchschauen und wird doch immer wieder überrascht. Eine Familienszene löst die andere ab, führt mal ins Alltägliche und dann zu dramatischen Veränderungen. Erwartungen, Enttäuschungen, Provokation, Geduld, aber auch Eifersucht, Scheu vor Veränderungen und Pflichtgefühl bestimmen die vermeintlich stabilen Konstellationen in der Familie und doch hält alles nur der Glaube zusammen, dass es so sein muss.