Yonatan Sagiv: Der letzte Schrei, Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Kein & Aber, Zürich 2022, 400 Seiten, €25,00, 978-3-0369-5865-1
„Ich fange wieder an zu weinen. Hoffentlich wird es durch das Rauschen des Wassers übertönt. Meine Finger nehmen auf dem kalten Badewannenrand eine kränkliche weiße Färbung an. Mein Vater wird sterben. Gabriela wurde ermordet. Prince mit Sicherheit auch. Ich habe keine Ahnung, wie das alles passiert ist. Und ich habe nicht den blassesten Schimmer, was ich jetzt tun soll. Du armselige Null, du kleines Stück Scheiße, niemandem kannst du helfen, nicht mal dir selbst.“
Privatschnüffler Oded Chefer, von seinen Freunden auch „Wühlmäuschen“ genannt, erzählt ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, frech, schnoddrig, ohne Rücksicht auf politische Korrektheit oder gar Feingefühl von seiner Arbeit.
„Bei meinem Pech muss ich in einem früheren Leben offenbar Leni Riefenstahl gewesen sein.“
Der sechsunddreißigjährige Ich-Erzähler ist mal ein „Er“ und mal eine „Sie“. Die queere Community ist zwar Odeds Zuhause, aber eigentlich möchte er eher in Tel Aviv zur besseren israelischen Gesellschaft gehören. Eine Chance dazu aufzusteigen, und wirklich gute Aufträge zu erhalten, offeriert ihm der allseits bekannte Agent und Manager der Crème de la Crème des Showbusiness Binjamin Direktor, genannt „Bulli“. Oded soll den künftigen Star der Szene Carine Carmeli, ihre Mutter war mit einem Hit einst eine bekannte Sängerin, auf den Zahn fühlen und herausfinden, warum sie neuerdings so deprimiert und vor allem so aufsässig ist. Ein wichtiger Studiotermin muss in einer Woche eingehalten werden, solange hat Oded Zeit für seine Arbeit als „Nachhilfelehrer“ bei Carine. Doch dann erzählt Mona Markowitsch, dass Gabriela, eine Transfrau verschwunden ist und Oded sich kümmern soll. Er hat aber genug mit den Problemen des launischen Teenagers zu tun. Carine hat der Weltschmerz gepackt und natürlich Liebeskummer. Zum einen ist da der attraktive Prince Connan, der Sohn eines philippinischen Arbeitsmigranten-Ehepaares, dass illegal in Israel bei den Carmelis gearbeitet hat und nun ausgewiesen wurde. Der Junge allerdings war zu dem Zeitpunkt der Ausweisung nicht greifbar. Dann ist da noch ein Klassenkamerad Dean Carasso und seine Kumpels, die Prince gemobbt haben. Im Hintergrund der Handlung wütet ein Feuer in unmittelbarer Nähe von Tel Aviv und verdunkelt so einige Spuren. Und dann hat sich Oded auch noch in den Kleiderschrank Stan verliebt, einen Ukrainer, der als rechte Hand von Bulli fungiert.
Schnell, sprachlich eloquent und gewitzt läuft Odeds Gedankenkarussell und immer neue Beobachtungen reihen sich aneinander, zumal der getötete Prince in einem Brunnen gefunden und auch Gabriela mit einem eingeschlagenen Schädel entdeckt wurde. Sie hatte Oded noch auf der Party von Bulli getroffen, auf der, so wird gemunkelt, noch eine andere Feier in den Hinterzimmer abläuft. Gabriela behauptete, dass ihrem Aufstieg als Sängerin wohl nichts mehr im Wege stehen würde.
An vielen Stellen bleiben einem bei Odeds bildlichen Vergleichen das Lachen im Halse stecken, aber als hoffentlich künftiger „Haus- und Hofermittler der Reichen und Prominenten“ darf man nicht zimperlich sein.
„Erzähl das deinen fünf und sieben Jahre alten Enkelinnen, die sich um die Wimperntusche streiten, als wäre es das letzte Fitzel Kartoffelschale in Treblinka.“
Doch Odeds Träume erlöschen langsam, denn je mehr er ermittelt und je näher er dem mutmaßlichen Mörder kommt, um so mehr wird klar, wo der Schuldige unter den Reichen und Prominenten zu suchen ist.
Keine Frage, von Oded und seinem Schöpfer Yonatan Sagiv will man auf jeden Fall mehr lesen.