Dennis Lehane: Der Abgrund in dir, Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg, Diogenes Verlag, Zürich 2018, 527 Seiten, €25,00, 978-3-257-07039-2
„Brian lebt. Brian hat diese Situation gebraucht. Irgendwie, irgendwo würde sie ihn finden, und dann musste er dafür bezahlen. Oder sie würde in den nächsten dreißig Sekunden sterben.“
Rachel Childs erschießt auf einem Boot in Boston Harbor ihren eigenen Ehemann. Ein fulminanter Auftakt, der einfach neugierig macht auf eine Frau, die sehr unterschiedliche Lebensphasen durchlaufen wird.
Mit ihrer alleinerziehenden, gefühlskalten Mutter wächst Rachel auf. Einst hatte die Mutter ein erfolgreiches Ratgeberbuch über Beziehungen geschrieben, dem noch einige nicht so gut verkäufliche folgten. Nie hat sie jedoch der eindringlich fragenden Tochter etwas über den leiblichen Vater, der die Familie von einem Tag auf den anderen verlassen hat, erzählt. Für die Mutter war der Vater gestorben. Rachel setzt nach dem plötzlichen Tod der Mutter alles daran, ihren Vater endlich zu finden. Sie entwickelt eine ungeheure Energie und lässt sich auch nicht vom Privatdetektiv Brian Delacroix abhalten. Nachdem Rachel endlich auf ihren angeblichen Vater stößt, stellt sich schnell heraus, dass dieser zwar ihre ersten Lebensjahre begleitet hat, aber nicht ihr biologischer Vater war. Rachels Mutter hatte ihn angelogen. Beharrlich verfolgt Rachel die Suche weiter und entdeckt, dass ihr eigentlicher Vater ein unambitionierter Barkeeper war, der nun bereits sechs Jahre tot ist.
Rachel arbeitet erfolgreich als Journalist, auch in Krisengebieten, sie heiratet einen Mann, der sein Boot mehr liebt als sie und lässt sich scheiden.
Ab einem bestimmten Punkt jedoch wächst ihr alles über den Kopf. Panikattacken bestimmen ihr Leben, eventuell ausgelöst durch die Erlebnisse bei der Vatersuche, die einsame Kindheit, die gewaltsamen Ereignisse und Erlebnisse in Haiti. Bei einer Liveschalte mit ihrem Fernsehsender erleidet Rachel diese Attacke und es scheint so zu sein, als sei sie betrunken. Sie wird entlassen und traut sich danach nicht mehr aus dem Haus, sie meidet jeglichen Kontakt zu Menschen. In dieser Phase trifft sie den Privatdetektiv Brian wieder, der jetzt als Geschäftsmann im Namen seiner Familie, mit der er privat kaum Kontakt hat, Verhandlungen über Holzverkäufe tätigt.
Er gesteht ihr, dass er schon immer in sie verliebt war und beide heiraten. Nach und nach versucht Brian Rachel aus ihrem Schneckenhaus herauszuholen. Er schafft es, dass sie wieder die Wohnung verlässt, sich in ein Taxi setzt oder einfach nur einkaufen geht.
Nach zwei Jahren glücklicher Ehe, der besten Zeit, die Rachel wohl hatte, entdeckt sie ihn in Boston, obwohl er eigentlich auf Dienstreise in London sein sollte. Sie überwindet nun all ihre Ängste und begibt sich selbst in die Rolle einer Detektivin, um herauszufinden, ob Brian ein Doppelleben führt. Sie fährt Auto, sie observiert ihn und sieht ihn mit einer schwangeren Frau.
Die Identität wechseln ist eines von Dennis Lehanes Lieblingsthemen. Auch in diesem Roman dreht sich alles um Authentizität, Ehrlichkeit und Vertrauen. Rachel traut ihren Sinnen und wird fündig. Doch, will sie das eigentlich? Niemand war je so gut zu ihr wie der aufmerksame Brian. Wie wird ein Leben ohne ihn sein? \r\nLangsam wird dem Leser klar, dass nichts in dieser Geschichte zumindest von Brians Erzählungen stimmt. Wer ist diese Frau? Worum geht es, wenn Brian nicht der Holzhändler ist, der er zu sein vorgibt? Welche Rolle spielt Rachel?
Sicher ist, sie wird Brian erschießen und doch taucht er wieder zu einem Zeitpunkt auf, wo schon einiges Schlimmes geschehen ist. Er hat Rachel aus ihrer Depression aus Liebe geholt, aber wofür?
Oder ist auch diese Frage falsch?
Dennis Lehane führt den Leser permanent im zweiten Teil des Romans in die Irre und konstruiert doch einen glaubwürdigen Plot mit starken filmreifen, raffinierten Szenen und starken Figuren, die mal Liebende sind und dann zu Gegenspielern werden.
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