Jutta Richter: Das Schiff im Baum, Ein Sommerabenteuer, Carl Hanser Verlag, München 2012, 121 Seiten, €12,90, 978-3-446-24018-6
Wir waren an quietschende Straßenbahnen gewöhnt, an hupende Autos, an wummernde Bässe, an die Klospülung in der Wand neben unserem Kopf, aber das war nichts gegen die Stimme John Long Silvers. „Kann mal einer den Hahn abstellen?“
Ole und seine ältere Schwester Katharina sind wahre Stadtkinder. Sie verbringen ihre Ferien bei glühender Hitze am liebsten in den Computerabteilungen der kühlen Kaufhäuser. Sie wissen, wo sie ungestört spielen können und wo sie schnell rausfliegen. Ihre arbeitende, alleinerziehende Mutter ahnt nichts von ihrem Freizeitvergnügen. Als sie dann zur Kur fahren muss, sollen die Kinder ihre Ferien bei fremden Verwandten in Betenbüttel, in Friesland, verbringen. Wie ein Mantra spricht die Mutter immer wieder die gleichen Sätze aus: „Ihr werdet sehen, es ist wunderschön in Betenbüttel. Ich war als Kind auch immer dort.“ Aber das kann die Kinder nicht überzeugen.
Die warmherzige Tante Polly, die Katharina an eine uralte Schildkröte erinnert, freut sich auf die Abwechslung. Der mürrische Onkel Fiete ist nicht so optimistisch. Er will seine Ruhe und keine lauten Kinder im Haus. Wenn er kann, verzieht er sich mit seinem Hund Freitag zur Bushaltestelle, um ein bisschen zu dösen.
Die ersten Eindrücke von Betenbüttel sind nicht die besten, denn es gibt keinen Fernseher im Haus der Verwandten, kein Schwimmbad und ein uraltes knarrendes Bett, das Ole und Katharina sich auch noch teilen müssen. Was sollen sie drei lange Wochen in diesem langweiligen Ort anfangen? Auch die Begrüßung durch Onkel Fiete, der immer öfter nach Worten suchen muss und den seine Erinnerungen verlassen, stimmt die Kinder eher skeptisch. Was Onkel Fiete jedoch nicht vergisst, das sind seine Geschichten, zum Beispiel die vom Kapitän Ahab. So behauptet der alte Seemann, er sei mit der Crew der Pequod zur See gefahren, die Jagd auf Moby Dick gemacht hat. Tante Polly mag diese gruseligen Geschichten gar nicht, denn Onkel Fietes Einbildungskraft jagt ihr Angst ein.
Als Ole dann aber in der ersten Nacht von einem Schiff im Baum träumt und an die Pläne denkt, die er mal zu Hause ausgedruckt hat, kommt Leben in den Alltag der Geschwister. Onkel Fiete hat in seinem Schuppen alte Bretter und einen Anker.
Ohne Zank und Streit bauen die Kinder sich den originellsten Geheimplatz in ihren allerbesten Ferien. Onkel Fiete lobt die Kinder sogar, übergibt ihnen die blaue Fahne und erzählt seine Geschichte von Moby Dick zu Ende.
Wenn die Geschwister wiederkommen sollten, dann will er ihnen verraten, warum der Hund Freitag heißt. Und hinter dem Hahn Long John Silver und Kater Huckleberry Finn lauern weitere Klassiker. Nur, die Kinder müssen sich beeilen.
Wo nichts vorgegeben wird, da muss man sich etwas einfallen lassen. Und Langeweile ist die beste Voraussetzung für Ideen und neue Entdeckungen. Ole und Katharina haben trotz Computerspielpraxis genug Fantasie, um in diesen Sommerferien unvergessliche Abenteuer zu erleben. Doch nicht nur sie hegen zu Beginn Vorurteile gegen die alte Verwandtschaft, auch Onkel Fiete gibt den Kindern keine Chance, ist nicht neugierig wie Tante Polly.
Zwischen den Generationen scheint sich heutzutage ein Graben auszubreiten, den Jutta Richter mit ihrer poesievollen Geschichte und klassischer Literatur schließen kann. Sicher schwingt ein bisschen Wehmut mit, denn Onkel Fietes Kurzzeitgedächtnis lässt arg zu wünschen übrig und sicher herrschte ein anderes Lebensgefühl vor 30 Jahren als Oles und Katharinas Mutter noch aufs Land gefahren ist und die Verwandten noch jünger waren. Und doch, es funktioniert, geheimnisvollen Geschichten lauschen und die eigene Kreativität entdecken – beides beflügelt die Alten wie die Jungen.
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