Elizabeth Stroud: Das Leben, natürlich, Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth und Walter Ahlers, Luchterhand Literaturverlag, München 2013, 400 Seiten, €19,99, 978-3-630-87344-2
„In seinem Zustand betrunkener Klarsicht kam Bob sein Bruder plötzlich vor wie die Skrupellosigkeit und Schurkenhaftigkeit in Person.“
Sie sind Gesprächsstoff – die Familie Burgess. Und so, wie sich im Prolog Mutter und Tochter, beide verwitwet, so gern über die Burgess- Kinder unterhalten, so faszinierend ist das, was die Tochter über sie zu erzählen hat, ob sie sie nun genau kennt oder nicht. Kleinstadt eben, amerikanische Provinz.
Einst wuchsen die Geschwister Jim und Bob in Maine in Shirley Falls auf. Jetzt leben sie als Anwälte, Jim durch seine Medienpräsenz sehr bekannt als Strafverteidiger, Bob eher in seinem Schatten, in New York. Nur Susan, Bobs blasse Zwillingsschwester, für die niemand viel übrig hat, ist mit ihrem introvertierten Sohn Zacharias im Heimatort geblieben. Steve, ihr schwedischer Mann, hat sich von ihr getrennt und wohnt wieder in Europa. Längst ist die Mutter der drei Burgess-Kinder, die immer mehr Sympathien für die Söhne als für die Tochter hegte, verstorben. Der Vater kam durch einen Unfall ums Leben, da war Bob vier und Jim acht Jahre alt. Angeblich hat Bob auf dem Grundstück der Familie am Steuer gesessen und den Vater totgefahren. Ein traumatisches Erlebnis, das Bob sein ganzes Leben, jetzt ist er um die 50, beeinflusst hat.
Alle drei Geschwister finden nach langen Jahren der Trennung wieder zueinander als Zach vor Gericht geladen wird. Der 19-jährige Junge ohne Freunde oder Bekannte hat einen blutigen Schweinekopf durch die Moschee geschleudert, in der sich viele somalische Flüchtlinge aufhielten. Nie wird ganz klar, was ihn zu dieser takt- wie sinnlosen Tat getrieben hat. Der charismatische Jim glaubt durch gute Kontakte zu einem fähigen Anwalt, alles irgendwie von New York aus hinbiegen zu können. Bob reist zur Schwester, fühlt sich in ihrem kühlen Haus aber mehr als unbehaglich. Das Schweigen zwischen den Geschwistern ist beredter als jeder Dialog.
Als wäre Bob der ewige Loser, so stellt der überhebliche Jim seinen Bruder immer wieder hin, nicht in der Lage die Dinge zu regeln, muss wiedermal der eloquente Jim die Kartoffeln aus dem Feuer holen. Er reist ins verhasste Maine, da gegen Zach Anklage von der Bundesanwaltschaft erhoben wurde. Pam, Bobs ehemalige Frau, sucht immer wieder Kontakt zu ihm. Ein Trennungsgrund war die kinderlose Ehe, aber auch Pams unbändige Sehnsucht nach dem richtigen Leben. Auch Helen, Jims mit einem Familienerbe ausgestattete Ehefrau, sucht nachdem die Kinder aus dem Hause sind und studieren, nach neuen Aufgaben, ja sinnvollen Inhalten für ihr Leben.
Zach fürchtet sich seit seiner kurzen Inhaftierung vor dem Gefängnis, aus Angst flieht er zu seinem Vater. In diesen schwachen Stunden, Susan weiß nicht, wo ihr Sohn sich aufhält, beichtet Jim seinem Bruder, dass er damals am Steuer des Wagens saß, der seinen Vater getötet hat. Ungläubig schiebt Bob, für den Selbstzweifel zur zweiten Natur geworden sind, dieses Geständnis bei Seite.
Mit vielen Allgemeinplätzen versucht Jim die Vergangenheit zu verharmlosen, doch für Bob ist diese Offenbarung dann endlich der Startschuss für ein neues Lebensgefühl ohne die ewig bedrückende Anwesenheit und den Anerkennungswahn seines Bruders.
Aus verschiedenen Perspektiven fächert Elizabeth Stroud ihre vielschichtige, und nachdenklich stimmende Erzählhandlung auf, sie legt Lebenslügen frei, schildert Einsamkeit inmitten des Daseins und schaut auch zu detailgenau auf die Biographien von Menschen, deren Leben in ruhigen Bahnen zu laufen scheint, die plötzlich an Barrieren stoßen. Ihre Hauptfiguren sind am Ende des Romans völlig andere Menschen als zu Beginn und das zu lesen, ist wirklich unterhaltsam.
Die amerikanische Autorin und Pulitzerpreis-Trägerin bildet in ihrer Literatur das profane Alltagsleben mit all seinen Höhen und Tiefen ab, charakterisiert ihre Figuren genau, stellt sie in den aktuellen gesellschaftlichen Kontext und lässt sie auch durch den Blick der anderen lebendig werden.
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