Donna Leon: Das goldene Ei, Commissario Brunettis zweiundzwanzigster Fall, Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Diogenes Verlag, Zürich 2014, 320 Seiten, € 22,90, 978-3-257-06891-7

„Ihn beunruhigten nicht die Umstände des Todes, sondern die Tatsache, dass der Mann vierzig Jahre lang gelebt hatte, ohne irgendeine amtlich beglaubigte Spur zu hinterlassen, die bewies, dass er überhaupt existiert hatte. Dieses Rätsel, und das Traurige daran, macht Brunetti zu schaffen, aber das wollte er nicht aussprechen.“

Der Herbst mit seinen melancholischen Seiten erreicht Venedig. Auch Guido Brunetti lässt sich davon anstecken, denn es ist ruhig in der Questura. Seine Frau Paola teilt ihm dann aber mit, dass der behinderte Junge aus der Reinigung, in die sie seit Jahren ihre Wäsche bringen, gestorben ist. Niemand hat sich mit dem taubstummen Jungen, der ein erwachsener Mann war, abgegeben. Nur die Frauen aus der Reinigung haben ihm aus Mitleid den Job gegeben. Allerlei wird über den taubstummen Davide Cavanella geflüstert und noch mehr über seine eiskalte Mutter Ana. Die Obduktion ergibt, dass der Mann um die vierzig gemeinsam mit Kakao und Kuchen die bunten Schlaftabletten seiner Mutter geschluckt hat. War es ein Unfall, war es Selbstmord oder hat man ihm die Pillen, die aussehen wie Bonbons geschickt präsentiert? Alle zweifeln. Ana Cavanella reagiert auf Brunettis Besuche mit Ablehnung und Verachtung. Nur der junge, noch unverbrauchte Polizist Pucetti vermag es, mit etwas schauspielerischem Können ihr ein paar Informationen zu entlocken. Angeblich sind all ihre Papiere bei einem Einbruch und später dann Umzug verschwunden.

Davide Cavanella scheint unsichtbar zu sein, denn er hat nie eine Schule besucht, er wurde nie gefördert oder untersucht. Seltsam scheint auch, dass Ana Cavallena nicht mal Pflegegeld beantragt hatte und auch seit Jahren keiner Arbeit nachging. Davide kann nicht beerdigt werden, wenn niemand seine Identität feststellt. Brunetti spürt, dass alle, die etwas über die Cavanellas wissen, schweigen oder ihn belügen. Außerdem wurde vom Pathologen festgestellt, dass der Tote organisch völlig gesund war, auch die Ohren zeigten keine Auffälligkeiten.
Da nicht viel zu tun ist, nur eine der üblichen Gefälligkeiten für Vice-Questore Pata, der sich wieder beim Bürgermeister ins rechte Licht rücken möchte, geht Brunetti diesem Fall nach. Er stochert in der Vergangenheit der Ana Cavanella. Doch dann wird sie ins Krankenhaus gebracht. Jemand scheint sie geschlagen zu haben, aber sie behauptet, sie sei gefallen.
Die Spur in die Vergangenheit führt zum Kupferkönig Lembo. In seinem Haus hatte Ana, die einmal eine attraktive Frau gewesen sein muss, als Dienstmädchen gearbeitet. Mit wenig Schulbildung begann sie ihren Dienst mit 15 Jahren und blieb im Haus der Lembos bis sie 17 Jahre alt war. Danach, so berichtet die Tochter Lucrezia, wurde ihr Name nie wieder von der bigotten und streng religiösen Mutter erwähnt. Nach und nach lüften sich die Geheimnisse um Ana und Davides Leben und sie sind mehr als beklemmend.

Brunetti, der Melancholiker, resümiert, dass man sich immer für die eigene Familie interessiert, aber darüber hinaus existiert nicht oft ein Bewusstsein oder ein Mitgefühl für fremde Menschen. Aber auch in diesem Fall dreht sich alles um die Familie, jedoch auf eine völlig neue, äußerst unitalienische Weise. Geldgier, übertriebene Religiösität und Schuldgefühle spielen eine Rolle und eine unglaubliche Gefühllosigkeit.

In diesem neuen Fall des Commissario spielen die hilfsbereite Signorina Elettra und der eifrige Vianello mal nicht die wichtigen Nebenrollen, sondern zwei neue Gesichter und Figurenkonstellationen drängen sich in den Vordergrund: zum einen Polizist Pucetti und Claudia Griffoni aus Neapel, mit der auch wiedermal der Konflikt zwischen Nord- und Süditalien aufgefrischt wird. Allerdings helfen beide Brunetti bei seinen Ermittlungen, die eigentlich ins Leere führen, denn Schuldige in diesem Fall kann man nicht bestrafen. Nur die Hoffnung besteht, dass das Leben diese richten wird.