Renate Ahrens: Das gerettete Kind, Droemer Verlag, München 2016, 352 Seiten, €19,99, 978-3-426-28114-7

„Ich weiß nichts über Omas Leben damals. Einmal habe ich versucht, von Leah etwas zu erfahren. Drei oder vier Jahre muss das her sein. Ihr Blick wanderte in die Ferne. Deine Großmutter hat als Einzige in der Familie den Holocaust überlebt, sagte sie mit monotoner Stimme. Frag sie nicht, frag sie nie.“

Die achtzehnjährige Rebecca lebt mit ihrer geschiedenen Mutter Leah, die nur für ihre Arbeit lebt, in Dublin. Immer wieder kommt es zu Spannungen zwischen den Frauen. Auch die Beziehung zwischen Leah und ihrer 86-jährigen Mutter Irma ist nicht frei von Konflikten. Innerhalb der Familie herrscht die Ansicht, dass die beiden Zwillingsbrüder, die acht Jahre älter sind als Leah, nur Gutes für die Mutter wollen und die Tochter Leah das schwarze Schaf ist. Als Kind war sie störrisch, eigensinnig und ohne Kindermädchen für die Mutter eine Belastung. Leah spürt die vehemente Ablehnung der Mutter und glaubt, dass sie eigentlich nicht gewollt war. Allerdings schwelt im Hintergrund immer ein dunkles Geheimnis, das Geheimnis von Irmas Kindheit und all dessen, was sie als deutsche Jüdin durchmachen musste. Die Familie weiß nur, dass Irma als Einzige den Holocaust überlebt hat. Allerdings redet sie nicht darüber. Alle müssen auf die Mutter Rücksicht nehmen, denn sie habe viel durchmachen müssen. So wurde Irma von ihrem liebenden Mann beschützt und so glauben die erfolgreichen Zwillingsbrüder nun, die Mutter vor der Schwester beschützen zu müssen.

Ohne die Auswirkungen zu ahnen, ist das Schweigen innerhalb der Familie zum Ritual geworden. Dieses kaum miteinander Sprechen haben auch Leah und Rebecca kultiviert. Aus Angst vor der Mutter, die alles Deutsche konsequent ablehnt, erzählt Rebecca nichts von ihrem Freund Jonas aus Hamburg. Ihn möchte sie gern besuchen und auch Zeit in Hamburg verbringen.
Als Irma durch einen Herzinfarkt im Krankenhaus landet, verbieten sogar die Brüder der Schwester einen Besuch. Allerdings bemerkt der Leser auch, wie Irma ihre Söhne gegen die ungeliebte Tochter grundlos ausspielt.
Nur Rebecca hat Zugang zur Großmutter. Ihr erzählt sie von ihrem Vorhaben nach Deutschland zu reisen, zumal Hamburg Irmas Geburtsort ist.

Für die Großmutter kehrt, bedingt auch durch die Krankheit und ein mögliches nahes Ende, gedanklich die Kindheit zurück. Sie sucht nach ihrem Tagebuch und denkt an die schreckliche Zeit ab den 1930er Jahren. Nur Lea, eine enge Freundin, ebenfalls Jüdin, hat sich damals für Irma eingesetzt, als sie von den anderen Schülern geschlagen wurde.
Nach dieser Freundin hat Irma, ohne das ihr Mann etwas von der Existenz Leas gewusst hat, ihre Tochter benannt. Als die Lage sich für die Juden zuspitzte, sorgten Irmas Eltern dafür, dass das Mädchen auf einen Kindertransport nach England geschickt wurde.

Irma hatte keine Chance, sich von Lea zu verabschieden. Das bereitete ihr Gewissensbisse ein Leben lang und irgendwie so scheint es, hat Irma ihre schlechten Gefühle auf ihr Mädchen namens Leah übertragen.

Rebecca reist, obwohl die klammernde Mutter einen Bandscheibenvorfall hat, nach Hamburg. Sie recherchiert vor Ort und kann so einiges über die Kindertransporte und Zeitzeugen herausfinden. Trotz der schützenden Zwillingsbrüder spricht Rebecca mit der Oma über die damaligen Ereignisse. Irma lässt das Vergangene endlich an sich heran. Sie erinnert sich an das jüdische extrem unfreundliche Ehepaar, das für sie gebürgt hatte, ihre Zeit auf dem Bauernhof in Irland und den Moment als ein Brief vom Roten Kreuz ihr mitteilte, dass ihre Eltern im KZ Auschwitz ermordet wurden.
Als Rebecca ein Interview mit einer Lea Ginzburg findet, stellt sich schnell heraus, dass das Irmas Jugendfreundin ist. Nun öffnen sich alle Schleusen und Irma traut sich endlich ihren Erinnerungen freien Lauf zu lassen. Und sie findet für ihre eigene Tochter einen neuen, versöhnlichen und offenen Ton.

Aus drei Perspektiven erzählt Renate Ahrens ihre fiktive Geschichte. Rebecca, Leah und Irma kommen zu Wort und beurteilen jeweils aus ihrer Sicht die Geschehnisse.

Sprachlich einfach gehalten fließt die durchaus spannende Handlung mit Blick in die Vergangenheit, in der sich die Schatten einer Generation auf die nächste legt und ziemlich viel verdunkelt. Dem Leser fällt es jedoch schwer nachzuvollziehen, warum Menschen nicht über das Erlebte reden wollten und lieber Missverständnisse, ja Zwiste in der Familie in Kauf genommen haben und mit Härte und Lieblosigkeit reagierten.