Marie-Aude Murail: Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler, Aus dem Französischen von Tobias Scheffler, S.Fischer Verlag, 571 Seiten, €16,95, 978-3-596-85443-1

„Und plötzlich sah ich mich so, wie ich war: Ich kniete und sprach mit einem Kaninchen.“

Charity Tiddler könnte Beatrice Potter sein, ist sie aber nicht. Die französische Autorin Marie-Aude Murail erzählt eine fiktive Biographie in weiten Teilen. Bei den Tiergeschichten und den Passagen, in denen es um ihre heute englischen Kinderklassiker geht, kommt sie der wahren Erfolgsgeschichte der bekannten englischen Autorin allerdings sehr nah.
nCharity lebt als ziemlich einsames, nicht sehr attraktives Kind, ihre beiden Schwestern sind früh verstorben, in einem großen, wohlhabend ausgestatteten Haus, umgeben von ihrem Hauspersonal einschließlich schottischem Kindermädchen Tabitha. Sie erzählt ihr herrlich gruselige Geschichten und ekelt sich vor den Tieren, die Charity in ihr Zimmer schmuggelt. Bevor ein Kaninchen geschlachtet werden soll, darf es kurzzeitig bei Charity wohnen. Tabitha nennt es recht zynisch Pastete.

Nachdem Charity in der Bibliothek ihres Vaters, natürlich unerlaubt, Shakespeares „Hamlet“ entwendet und auswendig lernt, reist endlich die französische Gouvernante Blanche an, um Charity zu unterrichten. Inzwischen hat sich Charity jedoch bereits wissenschaftlich betätigt. Sie beobachtet die Verhaltensweisen ihrer Tiere und schreibt alles auf. „Ich hätte einen höchst annehmbaren kleinen Jungen abgegeben, aber ich war ein hoffnungsloses Mädchen.“
Aber Charity wirkt unter ihren Altersgenossen auch wie ein Freak, denn sie ist zwar schüchtern, redet ab in Shakespeare Versen und schleppt ihre Tiere überall hin mit.
Bei Mademoiselle Blanche lernt Charity eher lustlos die französische Sprache und das Klavierspiel, wofür sie absolut unbegabt ist. Aber Blanche begeistert Charity für’s Zeichnen und Aquarellieren. Mit Eifer hält das Mädchen ihre Tiere in allen möglichen Posen fest und denkt sich dann später für die Kinder ihrer Umgebung kleine Geschichten über Peter, ihr Lieblingskaninchen, aus.

Charity erlebt nicht viel. Sie besucht ihre Verwandten, nimmt sich vor mit den Cousinen mehr Kontakt zu haben, spürt aber, wie hohl viele Gespräche ablaufen.

In der steifen, von Konventionen geprägten Gesellschaft, in der sie aufwächst, wird nicht viel gesprochen. Die Frauen leiden zeitweilig an Nervenkrankheiten oder eher Überempfindlichkeiten und die Männer gehen zum Fliegenfischen und wundern sich, wenn Menschen von ihrer Hände Arbeit leben müssen. Charity hat zu ihren Eltern eine distanzierte Beziehung, so wie sie sie kaum als Kind wahrnehmen. Als Charity eine junge Frau wird, belagert die Mutter sie mit ihrer Eifersucht, eine Beziehung oder ein vertrauensvolles Verhältnis findet sie nie zu ihr. Allein der Gedanke, dass Charitys Bücher verkauft werden, ist der Mutter suspekt.

Als sich Charity mit ihrem Cousin Philipp anfreundet, kommen sich auch deren Lehrer, Mademoiselle Blanche und Herr Schmal näher. Oft treffen sie sich im Naturgeschichtlichen Museum. Neben all den Cousinen und Cousins taucht auch Kenneth Ashley auf, dessen Mutter mit Charitys Tante bekannt ist. Er zieht alle Aufmerksamkeit der jungen Mädchen auf sich. Es wird behauptet, er mache eine Banklehre in London, dabei reist er als Schauspieler durchs Land.
Charity lebt auf, wenn sie im Sommer mit der Familie in Dingley Bell sein darf. Sie unternimmt lange Spaziergänge, zeichnet und bildet ihren Geist.
Mit Hilfe von Charity finden sich Blanche und Herr Schmal über viele Umwege und sie werden es auch sein, die der jungen Frau Mut machen, ihre eigenen selbstillustrierten Geschichten zu veröffentlichen. Immer dreht sich alles bei den jungen Frauen ums Heiraten. Auch Charity wird davon nicht verschont. Hält der Verlegersohn um ihre Hand an, so wird sie sich doch für jemand anderen entscheiden.

Wie in einem Jane Austen Roman hält Marie-Aude Murail der englischen Gesellschaft mit ihrem trockenen Humor einen Spiegel vor. Allein die kurzen Dialoge zwischen den Eltern von Charity zeigen ihre hohe Kunst.

„MAMA: Aber, Albert, ich glaube, es ist das zweite Mal, dass sie ( das Hausmädchen der Familie, Gladys ) ihre Mutter begräbt.\r\nPAPA: Besser, man macht die Dinge richtig.“

Es ist nicht leicht, in diese im ersten Lesemoment so angestaubt wirkende Lebensgeschichte einzusteigen, doch nach einigen Seiten ändert sich das. Marie-Aude Murail kann unterhaltsam, wie komisch erzählen, Figuren genau charakterisieren und sicherlich zeichnet sie kein unbedeutendes Leben, denn Charity verhelfen Talent, ihre eigene selbstlose Art und die Liebe zu einem hoffentlich glücklichen Dasein in einer steifen und nur aufs Geld orientierten Gesellschaft.