Katherine Webb: Das fremde Mädchen, Aus dem Englischen von Katharina Volk, Diana Verlag, München 2014, 640 Seiten, €19,99, 978-3-453-29165-2
„Alice war am achten Februar 1809 verschwunden. An jenem Tag war Starling zum letzten mal glücklich gewesen – der letzte Tag, an dem alles gewesen war, wie es ein sollte, und danach kamen nur noch Demütigung und Angst und ein Sturm aus Trauer und Wut.“
Als Alice Beckwith, das Mündel des reichen Lord Faukes, das verwahrloste Kind aus dem Moor zu sich nimmt, hat sie keine Ahnung, woher das Mädchen stammt. Sie wird es Starling nach den unherschwirrenden Staren nennen. Groß ist die Bestürzung als Alice und Bridget, das Hausmädchen, das extrem schmutzige Kind entkleiden und die Brandmale und Verletzungen auf dem schmalen Körper entdecken. Starling hat mit ihren sieben oder acht Jahren keine Erinnerungen an ihre Herkunft, sie liebt ihre Retterin Alice und kann nicht fassen, dass die junge Frau nach einigen Jahren so plötzlich verschwindet. Starling weiß, Alice wäre nie ohne sie, ihre kleine Schwester, gegangen und sie hätte sie nie in der Nähe ihres Wohltäters allein gelassen. Aber wohin und mit wem ist die junge Frau entschwunden? Wie kann es sein, das sie einem anderen Mann gefolgt ist, obwohl sie doch den Enkel von Lord Faukes geliebt hat. Alices Wohltäter jedoch lehnte diese heimliche Verlobung vehement ab, denn Alice, die er zwar liebte, sei zu niederen Standes um Jonathan Alleyn, seinen Enkel, zu ehelichen. Angeblich ist Alice das Kind eines Freundes, doch jeder weiß, dass der alte Faukes alles andere als ein Menschenfreund ist.
1821: Bath, Rachel Crofton, einst Gesellschafterin und aus gutem, aber verarmten Hause stammend, heiratet Richard Weekes, einen Weinhändler. Attraktiv ist sein Gesicht, sein Benehmen eher ungeschliffen und doch hofft Rachel, das sie ihn vielleicht irgendwann lieben könnte. Sie ahnt nicht, dass Richard als Sohn des Stallburschen im Hause Alleyn aufgewachsen ist. Als Josephine Alleyn Richard und seine junge Frau zu sich zum Tee einlädt, ist dies eine große Ehre. Allerdings weiß Rachel nicht, dass sie der verschwundenen Alice äußerlich sehr ähnelt. In gewisser Weise macht Richard auch keinen Hehl daraus, dass er hofft durch Rachels gute Umgangsformen mehr Kunden anzulocken. Richard erzählt seiner Frau vom Sohn Jonathan. Seit Jahren lebt er zurückgezogen, vom Krieg gegen Napoleon in Portugal und Spanien schwer gezeichnet und dem Wahnsinn nahe im Haus der Mutter. Er trauert um Alice, die ihn so schmählich verlassen hat. Starling lebt ebenfalls als Dienstmädchen bei den Alleyns. Sie ist fest der Meinung und erzählt es jedem, der es hören will, dass Jonathan ihre Alice ermordet hat.
Rachel hatte beim Antrittsbesuch bei Josephine Alleyn mehrmals nach ihrem Sohn gefragt und so kommt die Hausherrin, die die Ähnlichkeit mit Alice ebenfalls bemerkt hat, auf die Idee, dass Rachel ihm, gegen Bezahlung, vorlesen könnte.
Jonathan füllt sich in seiner Isolation und mit den brennenden Kopfschmerzen von Rachels Anblick völlig irritiert und hätte sie beinahe in seiner Verwirrung erwürgt, wäre Starling nicht dazwischen gegangen. Starling quält Jonathan, wo sie nur kann, sie hat keine Angst vor ihm und will ihn ihren Verlust büßen lassen.
Richard hingegen interessiert sich weder für diesen Vorfall im Hause Alleyn, noch in anderer Weise für seine Frau, ihn interessiert nur die Entlohnung. Rachel ist enttäuscht über dieses Ansinnen, denn sie befand sich in dem Irrglauben, das man auf freundschaftlicher Basis mit den Alleyns verkehre. Richard verspielt und versäuft sein Geld in den Gastwirtschaften des Ortes und verkauft den Kunden gepanschte Weine. Rachel erkennt schnell nach der Hochzeit, mit wem sie sich, bis das der Tod euch scheidet, eingelassen hat. Richard ist ungebildet, unbeherrscht und vor allem hatte er eine sexuelle Beziehung zu Starling, die ihm seine Hochzeit nicht verzeihen kann.
Nach und nach beginnt Rachel, hinter die Fassade der Alleyns zu blicken. Sie vermutet sogar, dass die verschwundene Alice vielleicht ihre Zwillingsschwester sein könnte, die sie mit drei Jahren verloren hat. Sie ist ertrunken, aber ihr Körper wurde nie gefunden. Rachel beginnt nun Nachforschungen anzustellen, sie vertraut Jonathan zunehmend und schafft es auch, dass er von seinen traumatischen Erlebnissen auf den Kriegsschauplätzen erzählt. Alices Herkunft ist letzendlich viel mystriöser als gedacht und dass sie sich selbst im letzten Brief an Jonathan als „Schande“ bezeichnete, hatte seinen Grund.
Katherine Webb verknüpft in „Das fremde Mädchen“ Kriminalfall, Gesellschaftsroman und Liebesgeschichte. Am Ende der dramatischen Handlung, die zwischen den Jahren 1809 und 1821 spielt, wird der Fall Alice geklärt sein und je mehr der Leser über die adlige Familie erfährt, um so mehr sträuben sich ihm die Haare.
Geheimnisse, Lügen und vor allem ein bitteres Schweigen begleitet vor allem die weiblichen Figuren in dieser Geschichte. Klein ist die Personengruppe, die die britische Autorin Katherine Webb für ihre tragische Geschichte benötigt, um so konstruierter sind dann auch die Umstände, die alle irgendwie zusammenführen.
Und doch, „Das fremde Mädchen“ liest sich bis zum erlösenden Ende ausnehmend spannend.
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