Lucy Atkins: Das Flüstern des Meeres, Aus dem Englischen von Angela Koonen, Lübbe Verlag, Köln 2014, 493 Seiten, €19,99, 978-3-7857-2509-2
„Das Meer ist mehr grün als grau und recht rau mit weißen Schaumkronen. In der Ferne liegen einige bewaldete Inseln und weit draußen ein, zwei Schiffe. An der Veranda geht es zwanzig Meter in die Tiefe. Unten glänzen Felsen, auf die die Wellen schlagen.“
Wenn Kal an ihre Mutter Elena denkt, dann stellen sich recht widersprüchliche Gefühle ein. Nie konnte sich Kal auf ihre Mutter verlassen, ihre Stimmungen waren unberechenbar, ihr Empfinden für die ältere Tochter unterkühlt. Da hatte es Alice als Jüngste viel besser, sie kam mit der Mutter wunderbar aus. Trotzdem haben Kal und Alice ein gutes Verhältnis, obwohl sich Kal immer ausgeschlossen gefühlt hat. Kals Vater glänzte mehr durch Abwesenheit als beschäftigter Anwalt. Schwierig erscheint dieses englische Familienleben mit Häuschen und Garten, aus dem sich Kal immer mehr herauszogen hatte. Enger wurden die Kontakte dann wieder als Kal selbst Mutter wurde. Mal beachtete Elena ihren Enkel Finn, mal ignorierte sie ihn völlig. Als Elena in ihrer Brust einen Knoten bemerkt, geht sie nicht zum Arzt, sie lehnt bei der Erkennung des Krebses jegliche Behandlungen ab. Kal ist am Ende bei ihr und doch hat sie immer das Gefühl, dass ihre Mutter ihr zeitlebens etwas verschwiegen hat.
Kal wird recht behalten und sie wird, als sie verdächtige SMS Nachrichten auf dem Handy ihres Mannes von seiner Ex-Freundin entdeckt, mit ihrem achtzehn Monate alten Sohn die Flucht ergreifen. Im Nachlass hat Kal eine Schachtel voller Postkarten entdeckt, die Elena von Susannah Gellespie erhalten hat. Sie ist Inhaberin einer Galerie auf einer Insel im kanadischen British Columbia. Kal bucht im Januar einen Flug und einen Leihwagen und macht sich auf die Suche nach der Vergangenheit ihrer Mutter, die ursprünglich aus Kalifornien stammte.
Parallel zu Kals Geschichte erzählt Lucy Atkins von Elena und ihrem Leben Ende der 1980er Jahre in Kalifornien und British Columbia. Es geht um ihre Arbeit als Forschungsstudentin mit Orkas, den sogenannten Killerwalen.
Kal hat keine Ahnung vom Leben der Mutter vor dieser Zeit.
Aber Susannah, die mehr als überrascht ist vom Erscheinen der jungen Mutter mit Kind, lässt sich jede Information aus den Nase ziehen. Immer seltsamer wird die Begegnung mit der komplizierten Frau, die sich ständig um den verängstigten Finn kümmern will. Kal findet jedoch heraus, dass auch die Geschichten, die Elena von ihren Eltern früher erzählte zum Teil nicht stimmten.
Kal kann vieles nicht verstehen, wenn sie an das zurückliegende Leben ihrer Mutter denkt.
„Es ist mir ein Rätsel, wie meine Mutter all das aufgeben konnte – das tosende Meer, die schneebedeckten Berge und die Schwertwale, die Schutz brauchten. Dieser Wechsel – von der Wildnis zur Gartenhecke, von Killerwalen zu Schulfahrten, von Hydrophonen zu Ölfarben – ist unfassbar.“
Warum war die Mutter so unzufrieden, ja zeitweise depressiv? Und welche Bedeutung hatte Susannah, die sie ja offensichtlich Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte? Kal wird hinter die Lebensgeheimnisse ihrer Mutter unter Gefahren gelangen. Das Erlebte wird ihr die Augen öffnen und sie wird verstehen, warum ihre Mutter sich ihr gegenüber so verhalten hat.
Spannend geschriebene psychologische Geschichte einer Frau, die sich nicht öffnen konnte, weder ihrem Kind gegenüber noch ihrer Umwelt.
Wenn nicht allzu oft das Wort „Scheiße“ vorkommen würde, wäre dieser Roman mehr als unterhaltsam.
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