Daniela Krien: Irgendwann werden wir uns alles erzählen, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 260 Seiten, €25,00, 978-3-257-07219-8
„ Ich weiß nicht, was mein stärkstes Gefühl ist: die unstillbare Sehnsucht nach einer weiteren Nacht wie der letzten, die Erniedrigung des Augenblicks und die Lust daran, die Angst, der Mädchenstolz und der Wunsch, diesen Stolz brechen zu lassen.“
Maria ist die leicht verunsicherte, teils lethargische und doch wortstarke Erzählerin dieser, ihrer Geschichte kurz nach den aufwühlenden Ereignissen 1989, die auch auf ihren Wohnort, ein kleines thüringisches Dorf, übergreifen. Die 16-Jährige wohnt neuerdings auf dem Brendel – Hof bei ihrem Freund Johannes. Wortkarg wie die Familie ist, hat sie ihren Umzug hingenommen und erwartet aber von Maria etwas Beteiligung bei der Arbeit, gerade in diesem heißen Sommer 1990. Maria, die sich innerlich zu weigern scheint, erwachsen zu werden, geht kaum noch in die Schule, liest mit Begeisterung Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ und lebt in den Tag hinein. Sie ist die Beobachterin des einfachen arbeitsamen Lebens auf dem Hof, der Leute, die nie einer LPG angehörten. Bereits Ende der 1960er Jahre ist der Sohn von Frieda Brendel in den Westen ausgereist. Er kehrt nun aus den bayerischen Landen für einen Besuch zurück. Jeder auf dem Hof ahnt, mit den Veränderungen nach dem Mauerfall wird sich auch ihr Leben wandeln. Friedas Sohn Siegfried schmiedet bereits Pläne. Für Johannes eröffnet der Westen plötzlich ganz neue Berufsperspektiven fernab der Landwirtschaft. Maria fühlt sich weder vom Glanz des funkelnden Westen angezogen, noch kann sie Johannes in seinem Drang, die Welt durch die Linse des Fotoapparates festzuhalten, folgen. Der Westen schleicht sich langsam in die Wohnungen und Köpfe der Leute ein.
Maria scheint davor gefeit zu sein, sie ist fasziniert von dem um Jahrzehnte älteren Eigenbrötler Thorsten Henner, der unweit ihres Hofes lebt. Mit ihm geht sie eine bis an die Schmerzgrenze obsessive Liebesleidenschaft ein, die sie fast zerreißt und lebendig werden lässt. Immer verhängnisvoller wird dieses Verhältnis zwischen der Minderjährigen und dem Mann, der mit ihr alles machen kann und will. Immer bedrückender werden Marias Schuldgefühle gegenüber Johannes und seiner Familie.
„Mein Platz in der Familie festigt sich im selben Maße, wie ich mich langsam wieder von ihr entferne.“
Und so steuert die Geschichte, die so sehr die rohen, aber auch zärtlichen Momente dieser Zweierbeziehung einfängt, auf eine Entscheidung am Ende des Sommers zu, die weder Maria noch Henner fällen wollen und doch müssen.
Das wortgewaltige und bildlastige Debüt von Daniela Krien besticht durch die uneingeschränkte Bejahung der Gefühle ihrer Protagonisten, ob es sich um die unmögliche Liebe, eine neue berufliche Leidenschaft oder die vehemente Verunsicherung durch den Westen handelt.