Chris Whitaker: In den Farben des Dunkels, Aus dem Englischen von Conny Lösch, Piper Verlag, München 2024, 592 Seiten, €24,00, 978-3-492-07153-6

„Patch legte sich hin und schluckte. Einen elenden Moment lang spürte er Tränen aufsteigen, als er den Gedanken an die Verheerungen unterdrückte, die er mit seiner Suche nach Grace angerichtet hatte. Mit einer Reise, die den Großteil seines Lebens bestimmt hatte. Vom Jungen zum Mann, von Monta Clare über Banküberfälle und Kunstausstellungen bis ins Gefängnis. Er hatte eine Tochter verloren, eine Freundin, eine Liebe und eine Mutter. Er hatte mehr verloren, als sich ermessen ließ.“

1975: Joseph Patch Macauley und Saint Brown sind im Städtchen Monta Clare im Staate Missouri beste Freunde. Unbeschwert, sorglos und im Spiel vereint. Der charismatische Patch, der mit seiner Augenklappe einem Piraten gleicht, kann mühelos lügen und lässt auch gern mal etwas mitgehen. Er lebt allein mit seiner Mutter Ivy, die immer wieder Mühe hat, Arbeit zu finden. Doch dann rettet Patch, Misty Meyer, das wunderschöne Mädchen, dass er anbetet, vor einer Entführung und wird selbst in einen Van gezerrt. Ein Jahr lang muss der Dreizehnjährige in völliger Dunkelheit verbringen und teilt sein Schicksal mit Grace, einem Mädchen, dass immer wieder das Gefängnis verlassen muss. Grace erzählt Patch von allem, was sie gelesen hat und sie ist offenbar auch viel gereist. Nie bekommt Patch seine Peiniger zu Gesicht, doch mit Grace verbindet ihn eine tiefe Zuneigung, aber auch sie kann er nicht sehen. Zwar sucht die Polizei intensiv nach dem verschwundenen Mädchen in der Umgebung und nach Patch, aber nur der Ausdauer, dem Mut und der Energie Saints verdankt Patch seine Rettung. Die Tragik an der Geschichte ist jedoch, dass Patchs Peiniger nicht gefasst wurde und auch Grace wie vom Erdboden verschluckt ist. Wird Patch als Held gefeiert, weil er Misty sicher vor dem Tod gerettet hat, so hat sich der Junge doch verändert. Patch ist nicht mehr der unbeschwerte Pirat und er kann auch nicht mehr an der gemeinsamen Freundschaft mit Saint anknüpfen, denn der Junge ist besessen von der Idee, dass er Grace finden muss. Nach und nach, die Geschichte spielt über mehrere Jahrzehnte, findet die Polizei getötete junge Mädchen. Dass der Entführer der Schulfotograf Eli Aaron ist, der vielleicht sogar Helfer hatte, wird immer deutlicher. Durch einen Diebstahl, Patch klaut Zeichenblock und Stifte, lernen sich der leicht schräge Galerist Sammy und Patch, der für seine Mutter in der Galerie putzt, kennen. Sammy erkennt Patchs Talent, denn dieser beginnt die verschwundenen Mädchen und auch Grace zu zeichnen. Auch wenn Saint und Patch nicht mehr so eng sind, bleiben beide in Kontakt und Saint findet ihre Bestimmung, indem sie zur Polizei und später zum FBI geht. Zwar glauben alle, dass Patch einem Gehirngespinst aufsitzt oder seinen eigenen durchaus traumatischen
Erlebnissen, so weiß doch Saint, dass es diese Grace geben muss. Saint ist fest der Meinung, dass der Arzt Martin Tooms Eli Aaron geholfen hat, denn sie sieht ihn oft in der Nähe der Schule beim Beobachten der Mädchen. Als bei ihm das Blut von Callie Montrose, einem der verschwundenen Mädchen, gefunden wird und auch Haare von Aaron steht das Todesurteil schon fest.
Berührend sind all die Begegnungen, die Patch mit den Müttern und Vätern herbeiführt, um nach Fotografien die verschwundenen Mädchen zu zeichnen. Erste Gräber und Leichen mit Rosenkränzen werden entdeckt und Patch reist durch die Bundesstaaten und sendet Sammy seine Kunst, die er nicht verkaufen darf. Doch Patch braucht Geld und beginnt so einen Banküberfall nach dem anderen. Da Saint nun auf der andere Seite des Gesetzes steht, weiß Patch, dass sie ihn bald finden wird. Und Patch wird nicht nur wegen Banküberfällen ins Gefängnis gehen, sondern auch für Mord.
In immer neuen völlig überraschenden, wie bewegenden Wendungen wechselt die Handlung von normalem Alltagsleben in den USA zwischen 1975 bis 2001 bis hin zu tiefster existentieller Verzweiflung der Figuren, von unendlicher Verbundenheit bis hin zu Kränkungen und emotionalen Verletzungen. Chris Whitaker erzählt von einem religiös-fanatischen Serienmörder, einem empathischen, völlig traumatisierten, hochbegabten Mann und einer selbstbewussten Ermittlerin, die immer an das Gute im Menschen glaubt und sich doch auch täuschen wird.
Alle Haupt- wie Nebenfiguren, ob Saints Großmutter Norma, Sammy, der verrückte, wie sarkastische Galerist, die wunderschöne Misty Meyer, die einfach nicht kochen kann, ihrer aufmüpfigen Tochter Charlotte oder auch dem gutmütigen Chief Nix werden in diesem Seiten starken Roman zu lebendigen Charakteren, mit denen man bis zum bitteren Ende mitfiebert und mitleidet.