Auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2019
Jackie Thomae: Brüder, Hanser Verlag Berlin, Berlin 2019, 416 Seiten, €23,00, 978-3-446-26415-1
„Farbe bekennen? Ohne mich. Und ich sage dir auch, warum: Weil Hautfarbe als Dinstinktionsmerkmal die Grundlage für jede Art von Rassismus ist. Die Einzigen, die sich daran orientieren dürften, sind bekennende Rassisten. Wenn diese Unterscheidung aber kompletter Unsinn ist, was sie nachgewiesenermaßen auch ist, wieso sollte ich mich nach ihr richten? Wieso sollte ich mich einer Gruppe zuordnen lassen, die gar nicht existierte? Weil sie zwar wissenschaftlich nicht existiert, aber gesellschaftlich.“
Gabriel und Michael, auch Mick genannt, haben einen gemeinsamen Vater. Idris ist aus einem der jungen afrikanischen Nationalstaaten in die DDR zum Medizinstudium eingereist. Seinen Sohn Mick kannte er bis zum zweiten Lebensjahr und war dann verschwunden. Er ist im Gegensatz zu seinen Freunden in sein Heimatland, in den Senegal, zurückgekehrt, andere sind in Frankreich geblieben. Gabriel hat seinen Vater nie gesehen und er wird auch auf seine E-Mail gut vierzig Jahre später nicht reagieren.
Jackie Thomae verfolgt nun die sehr gegensätzlichen Lebenswege der beiden dunkelhäutigen Männer. Berichten Gabriel und Fleur, seine französische Frau, aus der Ich-Perspektive, so schaut ein personaler Erzähler auf Micks Biografie. Erzählerisch gekonnt inszeniert die in Berlin lebende Autorin, ihre tragischen Hauptfiguren, die in bestimmten Momenten ihres Lebens völlig versagen.
Gabriel lebt als angesehener, äußerst erfolgreicher Architekt in London. Als er seine Frau kennenlernt, beeindruckt er alle durch seine Kultiviertheit, seine Ehrlichkeit, seine Liebe zur klassischen Musik und seinen Ehrgeiz. Doch im Laufe der Jahre hat er den Kontakt zu seiner Frau und auch zu seinem Sohn Albert verloren. Er baut sein Lebenskonzept darauf auf, den gängigen Stereotypen eines Afrikaners zu entkommen. Fleur amüsiert und ärgert dies:
„Keine Trommeln zu mögen macht aus dir keinen Weißen, Gabriel!“
Schlafstörungen bringen ihn an seine Grenzen und als er von einem Segelurlaub zurückkehrt, begeht er einen radikalen Fehler, der ihn seine Reputation kostet.
Mick reist mit seiner stolzen Mutter Monika von der DDR in den Westen aus. Sie heiratet wohlhabend und Mick genießt den Luxus, der schnell nach der Scheidung entschwindet. Mick mogelt sich durch seinen Charme durchs Leben und lernt die zielorientierte Delia, die Jura studiert, kennen. Neben Drogengeschäften in der Berliner Clubszene, handelt er mit Schallplatten. Sie ziehen ins ehemalige Diplomatenviertel in Pankow und führen ein bürgerliches Leben mit bodentiefen Fenstern und eigenem Haus. Doch die Idylle trügt als Delia, ihre Eltern sind nicht begeistert, von Kindern spricht und Mick erklären muss, dass er keine zeugen kann, denn er hat sich sterilisieren lassen.
Atmosphärisch dicht und nachvollziehbar ehrlich erzählt Jackie Thomae von Lebenswegen, die sich nirgendwo überschneiden und doch miteinander zu tun haben und der Frage nachgehen, wie lebe ich mit einer anderen Hautfarbe, die doch eigentlich keine Rolle spielen sollte, ein richtiges Leben? Die Autorin zoomt sich ganz nah an ihre beiden Hauptfiguren heran und kommt ihnen doch nie zu nahe.
Jackie Thomae schreibt präzise Dialoge, und wie auch immer sie es anstellt, dieses Buch kann man erst beim Umblättern der letzten Seite aus der Hand legen.