Anke Stelling: Bodentiefe Fenster, Verbrecher Verlag, Berlin 2015, 256 Seiten, €19,00, 9783957320810
„Scheißegal, was die Kinder werden, oder nicht? Nein, ist es nicht. Nicht, wenn man so viel Achtsamkeit und Pflege und Mühsal und Gedanken und Sehnsucht und Geld in sie hineingesteckt hat. Bitte, erweist euch dessen als würdig und werdet ein ansehnliches Aushängeschild!“
Sandra, Anfang 40, lebt mit ihrer Familie, Ehemann Hendrik und den Kindern Bo und Linda, in einem Gemeinschaftshaus im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Einst der geheime Ort mit seinen diversen Hinterhöfen für die subversive Szene in der DDR, heute das oft belächelte Areal, da ausgestattet mit den sogenannten „Öko-Schwaben“ plus Kindersegen, die sich aufgrund ihrer finanziellen Sicherheiten die teuer sanierten Altbauwohnungen als Eigentum oder Mieter im Gegensatz zu den einstigen Bewohnern leisten können. Wo man aufpassen muss, dass einem auf dem Spielplatz der hochbezahlte Kinderwagen nicht geklaut wird, leben diejenigen die durch Verse von Volker Ludwig und ihre Kinderladenvergangenheit, in diesem Fall in Süddeutschland, sozialisiert wurden.
Sandra und ihre Mitbewohner gehören dazu und wohnen nun in einem sechsstöckigen generationenübergreifenden selbstverwalteten Hausprojekt mit offenen Türen, Gemeinschaftsflächen, einem Garten und Plena, in denen die Bewohner gemeinsame Entscheidungen treffen, alles auf freiwilliger Basis, versteht sich.
Aus der Innenperspektive Sandras erfährt der Leser so einiges über die ökobewusste Hausgemeinschaft, Sandras Familie und Freunde. Sandras Kinderladenclique hat sich nicht aus den Augen verloren, zumal Sandras Mutter, 68er Generation, Mitinitiatorin dieser Bewegung war. Eins allerdings wollen Sandra und ihre Freundinnen auf gar keinen Fall, so werden wie ihre Mütter oder Tanten.
Schaut Sandra nicht zynisch, sondern eher ehrlich besorgt auf ihre gern perfekten Freundinnen, die als verunsicherte Mütter alle Entscheidungen ihren Kleinkindern überlassen, lieber ewig diskutieren als von sich aus handeln oder den Nachwuchs gnadenlos überbehüten oder als Nichtmütter, die anderen Kinder betutteln und nerven. So weiß sie selbst nicht, was nun richtig und was falsch bei der Erziehung ist. Die Angst vor allem, was ihren Kindern, die ja glücklich sein müssen, zustoßen könnte, beginnt sie langsam zu lähmen. An normales Schlafen ist nicht mehr zu denken.
Allerdings ist die Kritik am Verhalten der Kinder, die angeblich ihren Freiraum benötigen, im Haus unerwünscht, auch wenn diese sich wie die Vandalen benehmen und mit Schimpfworten nur so um sich werfen. Als Beobachterin vergleicht die Erzählerin ständig die Mütter und Kinder im Haus und hasst doch dieses sich gegenseitige Bewerten.
„Ich fürchte mich vor meinen Gedanken. Und vor den Kindern, mit denen meine Kinder zu tun haben.“
Belächelt sie noch die Frauen, bei denen ein Burn-out diagnostiziert wurde, so gleitet sie langsam in eine Erschöpfung. Bei noch so kleinsten unangenehmen Anlass kann Sandra nur noch weinen.
Die Gemeinschaft hat sich für sie zur Falle entwickelt, in der die Nähe innerhalb des Hauses zur permanenten Belastung wird. Henrik vermag es sich einfach herauszuziehen, aber Sandra denkt pausenlos darüber nach, was die anderen wohl denken und ob sie aus dem Haus fliegt, wenn sie sich nicht bis an die Schmerzgrenze einbringt.
„Meine Gruppe ist nicht meine Gruppe, wir haben keine gemeinsame Utopie, wir haben ein Haus mit bodentiefen Fenstern, und das Einzige, was von den Slogans meiner Kindheit übrig bleibt, ist die Behauptung, dass ‚Gemeinschaft‘ etwas Positives sei, dabei hindert sie uns daran, überhaupt etwas zu tun. Weil wir uns niemals darauf einigen werden, was genau….“
Mag Sandra als Journalistin, die für Frauenzeitungen und das Radio schreibt, den Zeitgeist treffen, in ihrem eigenen Leben malt sie sich die größten Katastrophen aus, die geschehen könnten, um sich ihren eigenen Alltag im Gegenzug schönreden zu können. Unglaubwürdig wird es allerdings, wenn es ums Existentielle geht. Sandras Mann Hendrik verdient als Musiker kaum Geld, sie ernährt die Familie mit zwei Kindern und eigenem Büroplatz, auch wenn es nur ein Schreibtisch in Moabit ist, und natürlich kauft sie nur bio. Bei den Honorarsätzen und der eindeutigen Krise, besonders im Rundfunkbereich mit äußerst wenigen Sendeplätzen gerade für Feature, müsste sie, sollte sie wirklich so viele Aufträge erhalten, rund um die Uhr arbeiten und nicht wie im Laufe der Handlung im Büro schlafen.
Akribisch genau, Dialog stark, mit teilweise trockenem Humor und dabei doch auch subjektiv gefärbt erfasst die Erzählerin die gesellschaftliche Verunsicherungen des linksliberalen Bürgertums, wenn man es so bezeichnen darf, und ihre Lebenslügen von Gleichheit und Gerechtigkeit.
Frauen versuchen nicht emanzipatorisch ihr Leben selbstbestimmt in den Griff zu bekommen. Sie hängen sich, finanziell trotz guter Ausbildung, da nicht gut bezahlt, an egomanische Männer, sie behandeln ihre Kinder wie Erwachsene und geraten folgerichtig früher oder später emotional und geistig in eine Schieflage. Alle wollen alles richtig machen und scheinen doch desillusioniert auf eine Depression zuzusteuern, denn nichts hält ihren hohen Maßstäben stand.
Erhöht die Literatur Konflikte und spitzt diese zu, darf nicht vergessen werden, dass Anke Stelling selbst in so einem Berliner Wohnprojekt zu Hause ist. Dass so einiges für diese Geschichte als Vorlage diente, mag den Nachbarn sicher nicht gefallen haben.
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