Phil Earle: Billy sein, Aus dem Englischen von Annette von der Weppen, Carlsen Verlag, Hamburg 2011, 325 Seiten, €14,90, 978-3-551-58255-3

„ Für einen Moment erhaschte ich einen Blick darauf, wie eine normale Kindheit aussehen könnte, und ich hoffte, dass es für die beiden noch nicht zu spät war.“

Leben heißt für Billy Finn einfach nur wütend sein. Wütend auf seine Mutter Annie, die als Alkoholikerin mit dem Schläger Shaun zusammenwohnte, der den kleinen Billy regelmäßig verprügelte, wütend auf die Penner, die Sozialarbeiter, die nur ihren Job machen, dabei auf die Uhr schielen, wann endlich die Schicht zu Ende ist und sie zu ihren perfekten Familien nach Hause gehen können und wütend auf sich selbst, da er die große Chance vor drei Jahren in der Pflegefamilie Scott vermasselte.

Wenn dem 14-Jährigen jemand in die Quere kommt, dann verliert er wenig Worte und prügelt los. Nachts treibt er sich herum, trinkt und sucht sich Kumpel, mit denen er Autos knackt. Wie oft musste Ronnie, den er seit seiner Einweisung ins Heim vor acht Jahren als Erzieher am längsten kennt, ihn mit einem gezielten Griff auf dem Boden ruhig stellen. Billy hat immer das Gefühl, als würde Ronnie ihm sein Leben vorschreiben und er könne, wie im Knast, nicht selbst entscheiden. Aber Bill, der sich und die anderen Kinder als Lebenslängliche bezeichnet, hat auch ganz anderen Seiten. So kümmert er sich liebevoll, und das fast seit ihrer Geburt, um seine zehnjährigen Halbgeschwister, Lizzie und Louie. Die Zwillinge kennen als Zuhause nur das Heim und sie stützen sich auf Bill, der zuverlässig wie ein Uhrwerk für sie da ist. Zwar hat er all sein Vertrauen in die Erwachsenenwelt verloren, für seine Zwillinge jedoch tut er alles. Sie geben ihm Halt.

Als Billy dann Daisy kennenlernt, die neu in seine Klasse kommt, spürt er plötzlich Seelenverwandtschaft und er liegt richtig. Die so lebensfroh wirkende Daisy hat keine Eltern mehr, bleibt aber seltsam verschlossen, wenn Billy versucht das Thema anzutippen. Um einfach mal schlafen zu können, schleicht sich Billy manchmal in sein altes Zimmer bei den Scotts. Als würde er hier innere Ruhe finden.

Sein längerer Zeit besucht Annie ihre Zwillinge an jedem Samstag und es scheint so zu sein, als sei sie seit der Trennung von Shaun wirklich eine andere geworden.

Nur Billy, von dem sich Annie innerlich bereits verabschiedet hat und ihn sogar zur Adoption für die Scotts freigegen hatte, glaubt der Mutter kein Wort. Nie kann Billy verschmerzen, was die teilnahmslose, besoffene Mutter und ihr gewalttätiger Freund ihm angetan haben. Als dann herauskommt, dass Annie ihre Zwillinge wieder zu sich nehmen will, fällt Billy in ein tiefes Loch. Sein Erzieher Ronnie, den Billy für seine korrekte Art, sein „Sozialarbeitergequatsche“ und seine Unbeugsamkeit glaubt zu hassen, richtet ihm zum 15. Geburtstag einen Trainingsraum ein. Hier soll der Junge ordentlich Dampf ablassen und zu sich finden. Immer noch stößt Billy alle von sich, denkt, dass niemand sich wirklich um ihn kümmern will. Ronnie beweist ihm das Gegenteil und nimmt in Kauf, dass Billy mit Ronnies Genehmigung auf ihn einschlägt als wäre er Shaun.

Mit Daisy und Ronnie an seiner Seite scheint Billy den Abschied von den Zwillingen zu verkraften.

Doch dann holt den Jungen seine Vergangenheit wieder ein und er fühlt sich von allen Menschen, denen er mal vertraut hat, gedemütigt. Und er steht Shaun gegenüber.

Der englische Autor Phil Earle, der selbst Heimkinder betreute, lässt seine fiktive Figur Billy selbst erzählen. Aus der Sicht des Jungen versteht der Leser genau, warum Billy so aggressiv auf seine Umwelt reagiert, was in seinem Kopf vor sich geht und wie er sich fühlt. Nah an Billys Denken versteht der Leser aber auch, was mit dem Jungen los ist. Wie schwer er physisch und psychisch verletzt wurde und dass auch nach acht Jahren nichts vergessen ist, nicht der Whisky Geruch, der alle Erinnerungen hochkommen lässt und nicht die Hilflosigkeit des Kindes gegenüber den übermächtigen Erwachsenen. Billy sehnt sich nach Vertrauen, Wärme und Geborgenheit, kann aber seine Gefühle nicht zulassen. Zu oft wurde er angelogen, geschlagen und enttäuscht. Voller Skepsis und immer in Abwehrhaltung gegen jeden hat Billy das Gefühl dafür verloren, dass es Menschen gibt, die ihn mögen und sich um ihn sorgen. Billys Lebensgeschichte, die sich vielleicht aus vielen Erfahrungen mit Heimkindern zusammensetzt und an manchen Stellen auch konstruiert wirkt, überzeugt trotzdem.

Beim Lesen spürt der Leser die unterschiedlichsten Emotionen, sie pendeln zwischen der Empörung über Billys zeitweilige Ignoranz und tiefer Anteilnahme an der Trauer und Einsamkeit des Jungen.

Aber so muss ein gutes, wirklichkeitsnahes Buch auch sein, es muss einen fesseln, bewegen, zum Weinen bringen und wieder ausatmen lassen.

All das schafft Phil Earle mit seiner Geschichte „Billy sein“. Man darf auf sein nächstes Buch gespannt sein.