Anne Köhler: Nicht aus der Welt, DuMont Buchverlag, Köln 2022, 345 Seiten, €24,00, 978-3-8321-8004-1
„Schon wieder also saß Hempel in der Patsche. Eingesperrt in einem Auto mit einer unberechenbaren Fahrerin, nur dass jetzt auch noch eine Sadistin mit von der Partie war. Was lief bloß schief in seinem Leben? Womit hatte er das verdient?“
Hempel, der auch noch mit Vornamen Bing nach Bing Crosby von seiner Mutter genannt wurde, bekommt wirklich so gar nichts auf die Reihe. Als Student im 26. Semester, alle anderen sind irgendwie schneller fertig, hat er nun die fabelhafte Elfie, das Organisationsgenie, kennengelernt. Nichts soll diese wunderbare Beziehung zerstören, wären da nicht Elfies Ambitionen. Sie fragt den unglückseligen, unsportlichen Hempel, was sein größter Traum sei. Und er antwortet, wie immer ohne nachzudenken, er wolle gern am Marathon in New York teilnehmen. Kein Problem, Elfie meldet ihn an und nach drei Jahren nimmt er automatisch teil. Doch nun ist es längst zu spät, der guten Elfie zu beichten, dass Hempel gar keine Lust geschweige denn Fähigkeiten hätte, mal so 42 Kilometer zu laufen.
Auf dem Flughafen ist dann guter Rat teuer. Aber wie per Zufall landet Hempel in einem versteckten Berliner Hotel irgendwo in Berlin-Charlottenburg. Der gut gekleidete, etwas zu direkte Valentin nimmt hier die Stellung eines geschäftsführenden Direktors ein. Allerdings treibt es ihn von Traumata verfolgt sogar bis nach Schöneweide zu seiner Therapeutin. Sie ist von Charlottenburg nach Schöneweide, im Volksmund auch „Schweineöde“, nicht ohne Grund, genannt, gezogen. Der egozentrische wie eigensinnige Valentin, der sich sonst nie aus seinem Kiez hinaus bewegt, ist beim ersten Termin in der neuen Praxis, wie lang ist er nicht mehr S-Bahn gefahren, auch gleich viel zu früh. Als er neben einer völlig ausgelaugten, gut gekleideten Frau Anfang vierzig auf einer Pank sitzt, die ein schlafendes Baby hütet, ahnt er nicht, wie sie sein Leben ändern wird. Aus heiterem Himmel erzählt sie ihm von ihrem Kummer. Die Lesenden indes wissen bereits alles. Friederike, Professorin im Bereich Medienphilosophie, ist ohne es wirklich zu wollen, späte Mutter geworden. Das schreiende Baby ist kein Wunschkind und nimmt ihr allen Lebensmut. Durch den Schlafmangel glaubt sie, sie sei unsichtbar, ja transparent, wie sie Valentin für sich nennen wird. Wie oft hat sie nun den Gedanken von sich weggeschoben, dass sie heimlich Tötungsphantasien durchspielt, für die sich sich abgrundtief schämt. Ihr Mann Thomas, ein erfolgreicher Chirurg,hat nur gute Worte für sie, ist aber keine Hilfe. Verzweiflung, Versagensängste und Depressionen verleiten Friederike, die Flucht ebenfalls in dieses ominöse Hotel anzutreten.
Menschen, die einfach in schreckliche Lagen geraten sind, irgendwie feststecken und sich erholen müssen, eine Auszeit benötigen, öffnet das Hotel wie von Zauberhand die Türen. Es gibt eigene Regeln und finanziert wird alles durch einen anonymen Geldgeber. Auch Linda ist mit ihren Ängsten im Hotel gelandet.
Zwischen all den Figuren entspinnt sich nun eine kuriose Geschichte, bei der sogar eine Autofahrt und Verfolgungsjagd Richtung Polen mitten durch Brandenburg eine wichtige Rolle spielt.
In plastischen Szenen erzählt Anne Köhler von tragikomischen Männern, die mit ihren Ängsten nicht fertig werden, aber auch von einer Frau, die alles intellektuell meistern kann, nur nicht das, was irgendwie mit Gefühlen und Instinkten zu tun hat. Das Verschwinden als Gedankenspiel hat in diesem Roman eine große Faszination und doch fragt man sich, wie alles wieder gut werden kann.
Tiefgründiger Roman über Menschen, die in unserer Welt, wo alle doch mit allem dank Internet und sozialen Medien so bravourös klarkommen und Multitasking normal ist, sich als Versager fühlen.
Die Lesenden dürfen mitleiden und manchmal beim Lesen auch schmunzeln.