Anna Katharina Hahn: Der Chor, Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 283 Seiten, €25,00, 978-3-518-43160-3

„Alice betrachtet die schlafende Sophie – von den locker im Schoß liegenden Händen mit den dünnen Fingern und brutal abgebissenen Nägeln bis zur kaum sichtbaren Wölbung der kleinen Brüste unter dem Pulli. Das weiche Haar hat sie vermutlich heute früh nicht gekämmt, und auch ihr Gesicht sieht nach Katzenwäsche aus.“

Die im Leben stehende, umsichtige Alice ist es gewohnt, als Personalleiterin eines großen Kaufhauses die Dinge zu managen. Mit ihrem Ehemann Fred führt sie eine harmonische, kinderlose Ehe und sie fühlt sich im Frauenchor, den Cantarinnen, sehr wohl. Hier spricht sie oft mit der fast doppelt so alten, ebenfalls kinderlosen Lena, die einst als Lektorin in einem bekannten Verlag gearbeitet hatte. Und dann ist da noch die quirlige, nicht sehr zuverlässige Marie, mit der Alice vor einiger Zeit noch sehr gut befreundet war, aber aufgrund eines Streits herrscht Funkstille zwischen beiden. Als die junge Sophie dann an einem kalten Tag ohne Mantel in der Kirche auftaucht, denkt Alice, sie müsse sich kümmern. Sie borgt ihr ihren Mantel, beruhigt sie, denn in dem Frauenchor muss niemand vorsingen. Jeder kann einfach mitmachen. Angeleitet von der Estin Terje umfasst das Repertoire auch viele Kompositionen aus ihrem Heimatland. So kurz nach der Pandemie freuen sich die Chorschwestern, wieder zusammen singen zu können.
Frauen dreier Generationen und es werden im Laufe der Handlung noch einige dazukommen, stehen in diesem Roman, der in Stuttgart spielt, im Zentrum.
Parallel zum Alltag der Protagonistinnen, von dem Alice als Hauptfigur aus der personalen Erzählperspektive berichtet, erinnert sie sich auch an Geschehnisse aus der nahen Vergangenheit.
Als gut verdienendes Ehepaar hat sie mit ihrem Mann keine finanziellen Sorgen, doch fühlt sie sich, einst in Berlin mit ihrer alleinstehenden Mutter aufgewachsen, unter den Schwaben stellenweise nicht so wohl. Mag es an der schwäbischen Mundart liegen oder auch an der Art der Leute.
Auch Sophie als Studentin der Literaturwissenschaften scheint in Stuttgart etwas verloren. Halt hatte sie bei ihrer Freundin Maja gefunden, aber diese ist nun mit ihrem französischen Freund nach Paris gegangen. Gleich nach Alices erstem Besuch in Sophies seltsamer Wohnung voller Vögel, will sie ihr ein paar fein gearbeitet Creolen mit Vogelmotiven schenken. Diese Nähe erstaunt und erklärt zum Teil auch, warum Marie und sie so aneinander geraten sind. Obwohl ihr Streit sich auch darum dreht, dass Marie die gute Beziehung zwischen Alice und Fred nicht ertragen kann.
In einem Märchen umschreibt Anna Katharina Hahn das Leben von Marie und versucht auf diese Weise, die Figur in ihren Handlungen zu erklären.
Immer wieder greift Anna Katharina Hahn zum Stilmittel der Verfremdung, in dem sie märchenhaft überhöht oder auch realistisch von ihren literarischen Figuren erzählt. Als Lena dann in ihrer Wohnung stürzt, müsste eigentlich das Netzwerk von Freundinnen für die Pflege der alten Frau, die sie nie sein wollte, funktionieren. Doch Alice will unbedingt mit Sophie nach Paris reisen, auf Marie ist kaum Verlass und das neue Chormitglied Cora hat so ihre Sorgen mit Sohn Bogdan und der eigenen prekären Lebenssituation.

Es sind die Details bei Anna Katharina Hahn, die den Figuren Kontur geben. Wie immer schaut die Autorin tief in die Gesellschaft hinein und zeichnet ein Innen- wie Außenbild von ihren literarischen Figuren, ihren Lebensumständen und sorgt so für Identifikation oder eher Distanzierung.