Alex Shearer: An guten Tagen fahren wir rückwärts, Aus dem Englischen von Armin Gontermann, List Verlag, Berlin 2014, 252 Seiten, €17,99, 978-3-471-35108-6
„Das Leben anderer Leute kommt einem vor wie ein Wollknäuel mit Tausenden von Knoten. Unmöglich, die alle aufzudröseln. Am besten macht man weiter und denkt nicht mehr dran.“
Der britische Kinderbuchautor Alex Shearer hat das nicht getan. Er erinnert sich an das Leben seines an Gehirntumor verstorbenen Bruders Louis und dröselt mal mehr mal weniger erfolgreich die Lebensfäden auf.
Louis ist der Ältere, in den so viele Hoffnungen gesetzt wurden, der ein Ingenieurdiplom abgeschlossen hatte und sich zeitlebens mit irgendwelchen Aushilfsjobs über Wasser hielt. Kaum praktisch veranlagt glaubte er körperliche Arbeit sei wichtiger als geistige. Der willensstarke Louis konnte sich nicht einordnen, eckte an und setzte eigene Projekte in den Sand. Ein Querkopf, ein Tüftler, ein Träumer, ein Mensch mit einem unsteten Leben. Früh verstarb der Vater an Lungenkrebs und rauchte bis zum letzten Augenblick. Jetzt sollte Louis der Mann im Hause sein, was Alex ziemlich kränkte, denn in ihn schien die Mutter kaum Erwartungen zu setzen. Auch wenn die beiden Jungen sich bis aufs Blut prügeln konnten, so hielten sie doch auch zusammen, wenn es darauf ankam. Louis stellte sich vor seinen kleinen Bruder, als der sich zum „Rabauken“ entwickelte.
Und Louis nahm die alte Mutter zu sich bis sie starb.
Alex Shearer schreibt seine Erinnerungen an den doch widersprüchlichen Bruder nicht chronologisch auf. Er springt bei seinen szenischen Schilderungen mal in die Vergangenheit, dann wieder in die Gegenwart. Wenn das Buch beginnt ist Louis schon ein totkranker Mann. In vielen Szenen beschreibt der Autor, wie schwer es dem einst agilen Louis fällt sich etwas zu merken. Und immer wieder fragt sich Alex Shearer, warum der Bruder so ein Leben gewählt hat. Nichts konnte er zu Ende führen, immer wieder gab es Neues, was ihn interessierte. Warum vergeudete er seine geistigen Fähigkeiten, er, der Sprachen beherrschte, der viel gereist war? Warum blieb nie eine Frau an seiner Seite?
Als Louis seiner neuseeländischen Freundin nach Australien folgte, brach der Kontakt zwischen den Brüdern zeitweilig ab. Als klar wurde, wie krank und allein Louis ist, reist Alex zu ihm. Wie ein Mantra betont der ältere Bruder, dass sie ja hart im Nehmen seien und auch Alex greift nach jedem Strohhalm, um dem Bruder Mut zuzusprechen.
Doch Alex kann auch seine Wut auf den Bruder nicht verhehlen, so schlecht er sich auch dabei fühlt. Seit zehn Jahren funktioniert im Haus der Wasserboiler nicht mehr, die Waschmaschine ist defekt, der Wasserkessel ohne Henkel, der Kühlschrank ist so versifft, dass darin bereits neues Leben keimt und die Wohnung hat seit einem Jahrzehnt keinen Staubsauger oder Wischlappen gesehen. Louis schaut aus wie ein Penner, war ewig nicht beim Frisör, alles ist für ihn zu teuer, dabei hat er genug Geld auf der Bank. Er trägt seine Wollmütze tief im Gesicht und völlig farbverschmutzte Kleidung.
Vieles was der Bruder empfindet oder denkt, ist Alex völlig fremd, er kann es nicht deuten und will es auch irgendwann nicht mehr.
Alex beschreibt die Freunde, die nach Louis, der unbedingt unabhängig sein will, immer wieder fragen.
Doch der Mensch, der für Louis am allerwichtigsten ist, bleibt sein Bruder.
„Weiß du was?“, sagte er. „ Du bist alles, was ich noch habe.“ Ein ziemlich schrecklicher Gedanke, fand ich.“
Alex Shearers Reflexionen über den Bruder, Familie, Freundschaft, Beziehungen – das Leben allgemein – beschließen oftmals in einem ruhigen Erzählton die einzelnen Kapitel.„Zuerst lieben wir, wen wir lieben müssen. Dann werden wir erwachsen und lieben, wen wir lieben wollen. Aber wir bleiben trotzdem gefangen, wie ein Fisch, der einen Haken verschluckt hat. Fast unser ganzes Leben lang können wir flussabwärts schwimmen und werden doch wieder zurück in die Vergangenheit gezogen, in unsere Kindheit, hin zu unserem schutzlosen Ich. Und dann werden wir an Land gezogen.“
Louis fordert den Bruder auf, über das zu schreiben, was er mit ihm erlebt hat, auch von beider Verzweiflung. Aber der Bruder soll keinen sentimentalen Stuss schreiben und davon ist dieses Buch zwischen Weinen und Schmunzeln meilenweit entfernt. Es gibt keine tiefschürfenden Brudergespräche, denn Louis wäre dazu gar nicht mehr in der Lage. Völlig unspektakulär ist Alex einfach nur da, er kümmert sich ums Essen, um neue Küchengeräte, um DVDs, um die Wege, die getan werden müssen, um Besuche bei Bekannten. Alles was die beiden verbindet, sind die lebendig erinnerten vergangenen Episoden, ob diese nun komisch, peinlich oder auch traurig sind.
Alex Shearer hat ein anrührendes Buch geschrieben, voller kluger Sätze, ein Buch das langsam gelesen werden sollte, um nichts zu verpassen.
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