Pierre Jarawan: Am Ende bleiben die Zedern, Berlin Verlag, Berlin 2016, 448 Seiten, €22,00, 978-3-8270-1302-6

„Ich glaube, alle Söhne lieben ihre Väter. Aber ich habe meinen Vater verehrt. Weil er mich so oft teilhaben ließ an seinen beflügelnden Gedanken. Weil er mich mitnahm in Wunderwelten, die er in seinem Kopf erschuf. Weil er mich berauschte mit seinen Worten. Es gab nur ein Versprechen, das er mir schon früh abnahm: nie meiner Mutter zu erzählen, wovon seine Geschichten handelten.“

Samirs Familie ist 1983 vor dem Bürgerkrieg aus Beirut nach Deutschland geflohen. Die Handlung setzt ein, da ist Samir, der Erzähler dieses Romans, sieben Jahre alt. Begeistert berichtet der Junge von seinem Vater Brahim El – Hourani, einem Geschichtenerzähler und Wortzauberer. Er umgarnt nicht nur Samir mit den Abenteuern seiner Hauptfiguren, auch Yasmin, die Tochter seines besten Freundes Hakim lauscht andächtig.
Die Kinder können nicht ahnen, dass hinter allen Personen, die in Brahims angeblich fiktiven Abenteuern vorkommen, wahre Menschen stecken, die heute im Libanon noch leben.
Samirs Vater ist ein kluger Mann, er ist ein Vermittler zwischen den Welten. Schnell erkennt er, er muss Deutsch lernen, um in der neuen Heimat klarzukommen. Die Familie lebt in einem Übergangslager und zieht dann in eine kleine Wohnung. Mit Hakim, der Yasmin allein großzieht, wohnen sie Tür an Tür. Als Samirs Schwester geboren wird, sucht die Familie eine bessere Bleibe.

In allen Erzählungen des Vaters taucht der Libanon auf, den seine Kinder, Samir und seine Schwester sind in Deutschland geboren, nie gesehen haben. Zum 8. Geburtstag baut der Vater für Samir ein Zedernkästchen, damit er dort seine Geheimnisse deponieren kann.

Zeitversetzt platziert Pierre Jarawan in seinem Debütroman die Handlungsebenen und wechselt zwischen der Gegenwart und einem Erinnerungspuzzle, das Samir nach und nach zusammensetzt. Von Anfang an ist klar, Samir wird in den Libanon reisen und sich auf die Suche nach dem Vater begeben.

Ein rätselhaftes Telefonat, ein neu entdecktes Bild aus vergangenen Tagen, das die Mutter aufregt, verändert den Vater und sogar der kleine Samir spürt, dass etwas nicht stimmt. Angeblich geht es der Großmutter im Libanon nicht gut. Immerhin schickt der Vater regelmäßig Geld. Am kommenden Morgen ist der charismatische Vater für immer verschwunden. Ein harter Schlag für die Familie.

„Seit zwanzig Jahren vegetiere ich im Gestern“, wird Samir von sich sagen. Er muss für sich und Yasmin, die er heiraten möchte, herausfinden, warum der Vater die Familie, verlassen hat. In der Heimat des Vaters, auch mit seinem Tagebuch in der Tasche, angekommen, bietet sich für Samir ein völlig neues Bild. Die angeblich kranke Großmutter wohnt quicklebendig in einem großen Haus und ist äußerst wohlhabend, aber verbittert und kalt wie ein Fisch zu ihrem Enkel. Samirs Vater hat auch einen völlig anderen Namen und hat den der Mutter für die Flucht angenommen.

Als Samirs Mutter die deutsche Staatsbürgerschaft anstrebt, streitet sie sich maßlos mit ihrem Sohn. Für Samir ist das wie ein Verrat am Vater und am Libanon, den er durch die Geschichten und starke Präsenz des Vaters in sich aufgenommen hatte.

„Es war die große Neugier nach einer unbekannten Schönheit, um die sich Legenden rankten. Die Art, in der Vater von seiner Heimat sprach, seine Leidenschaft und Begeisterung, griff wie ein Fieber auf mich über. Der Libanon, mit dem ich aufwuchs, war eine Idee. Die Idee vom schönsten Land der Welt, mit alten und geheimnisvollen Städten, die sich an der steinigen Küste entlangreihten, um sich mit ihren bunten Häfen zum Meer hin zu öffnen. Und dann: die dichten Zedernwälder in den höheren und kühleren Gefilden, umgeben vom Libanongebirge, dessen Spitzen auch im Sommer schneebedeckt waren, sichtbar selbst von einer Luftmatratze aus, ganz unten auf dem Meer.“

Auch der Autor stammt aus dem Libanon. Mit drei Jahre kam er nach Deutschland. Der Vater eine Libanese, die Mutter eine Deutsche lebten mit ihrem Sohn in München.

Sprachlich versiert lässt Pierre Jarawan seine Hauptfigur zwischen überlangem Abschiedsschmerz, Melancholie und Aufbruch hin- und herpendeln. Atmosphärisch dicht, nie die politischen Bewegungen im Nahen Osten aus dem Auge lassend, verfolgt er dann Samirs Weg zu sich selbst und letztendlich auch zu seinem Vater.