Kathy Page: All unsere Jahre, Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender, Wagenbach Verlag, €24,00, 297 Seiten, 978-3-803-13313-7

„Denn was erwartete er von Louise oder den anderen? Dass sie mit einem Zauberstab wedelten? Den Fluss der Zeit umkehrten? Evelyn dazu brachten, ihm das Altwerden zu vergeben, einzusehen, dass auch sie alt war? Das wollte er ganz sicher nicht, obwohl sie auf der Schwelle zum Zimmer stand und ihn wütend anstarrte.“

Harry Miles stammt aus einfachen Verhältnissen, der Vater ist Dreher und die Mutter Hausfrau. Mit einem Schulstipendium und gebrauchter Schuluniform bahnt sich Harry seinen Weg zur Bildung, die seine Eltern nie hatten. Er begeistert sich beeinflusst von seinem charismatischen Lehrer für Lyrik und hofft, einmal selbst Dichter zu werden. Aber der Krieg und die Liebe wird ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Er lernt Evelyn, eine starke, attraktive, für ihn „atemberaubende“, aber auch bodenständige junge Frau, in der Bibliothek kennen.

Kathy Page erzählt einen klassischen Eheroman und verfolgt nun ihre Protagonisten detailgenau auf Schritt und Tritt. Evelyns Kindheit ist geprägt durch den trinkenden, wie kranken Vater, für den sie sich schämt und eine Mutter, die ohne Kritik alles hinnimmt. Harry und Evelyn heiraten im II. Weltkrieg, schreiben sich sehnsuchtsvolle Briefe, Evelyn kümmert sich um ihr erstes Kind Lily. Harry absolviert Militäreinsätze auch in Tunesien und durchlebt alle Qualen des Krieges. Wieder in der Heimat kann er endlich in Frieden mit seinem Kind spielen, ein zweites Mädchen wird geboren und die Tiefen des Alltags erwarten ihn. Er wird nicht Lyriker, sondern beginnt einen Ausbildung, um später in der Londoner Stadtverwaltung zu arbeiten, eine Tätigkeit, die ihn nie richtig interessieren wird.

„Zu Kriegsbeginn hatte ihn sein Händchen für Zahlen zur Artillerie gebracht und ihm womöglich das Leben gerettet; jetzt stellt es ihm einen Beruf in Aussicht – das heißt, ja, er sollte dankbar sein, aber wird er jemals den Weg zurück zu den Worten und ihrer wunderbaren Wendigkeit finden, zu dem Gefühl, dass sie mit ihm durchgehen?“

Weder Evelyn noch Harry wollen wie ihre Eltern in verrußten Reihenhäusern leben. Sie planen großzügig und bauen ein Haus, dass Harry gute vierzig Jahre abarbeiten darf. Evelyn geht als verheiratete Frau natürlich keiner Tätigkeit nach und doch ist die energievolle Frau mit Kindern, großem Garten und Haushalt nicht ausgefüllt.
Der Arzt rät ihr zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit, nachdem sie ihn wegen ihres Herzrasens aufgesucht hatte. Aber Evelyn ist zu stolz, um diesem Ratschlag zu folgen. Lieber tyrannisiert sie ihren Ehemann mit ihrer Putzsucht, ihrem Ordnungsfimmel und ihren unberechenbaren Launen. Oft sucht er nach dem Buch, das er gerade liest und irgendwo im Haus abgelegt hat. Evelyn räumt es jedes mal mit Beschimpfungen ins Regal zurück.

Die einst so liebevoll begonnene Ehe wandelt sich im Laufe der Jahre zur kleinbürgerlichen Hölle. Evelyn wird mit Ende dreißig nochmal schwanger und ein drittes Mädchen kommt zur Welt. Gab es mit Lillian und Valerie kaum Probleme – als Erwachsene werden sie sich dem Einflussbereich ihrer Mutter vehement entziehen – so wird Louise die für diese Zeit alten Eltern durch ihre frühen sexuellen Eskapaden nur enttäuschen.

Ein wissender Erzähler mischt sich manchmal ein und erzählt vom weiteren Verlauf der Familienereignisse, die eher negativ sind. Evelyn provoziert Auseinandersetzungen, hasst Kompromisse, Schwäche und Vagheit. Sie drückt gnadenlos alles durch, was sie will und kann in der Ehe mit Harry nie nachgeben. So muss er einlenken und macht dies auch immer wieder um des lieben Friedens willen. Louise kritisiert ihren Vater dafür und glaubt, dass es beiden besser ginge, wenn sie sich trennen würden, doch Harry verbittet sich ihre Einmischungen. Immer wieder fragt sich Harry, was für ein Mann er eigentlich ist. Seine Liebe zu Evelyn ist grenzenlos, sie ist sein Anker, auch wenn sie ihn mit ihrem Ego, ihrer Unfähigkeit, sich selbst zu beobachten und ihrer Energie an den Rand drängt. Evelyns innere Ängste vor Armut, Hunger, Invasion und Krankheit, die nie eintraten, scheinen sie zu ihrem Verhalten zu zwingen. Dabei wird beider Leben immer besser, sie haben ihr Haus, eine sichere Arbeit, sie können reisen, ein Auto kaufen. Aber das Leben miteinander wird immer armseliger. Am Ende, nach gut 70 Jahren, verbindet beide nur der tägliche, kleinliche Streit und die einseitige Verachtung Evelyns für ihren Mann. Nach einem Unfall im Haus muss Harry ins Krankenhaus. Evelyn verweigert ihm die Rückkehr und fordert seine Einweisung in ein Heim. Sie kann und will ihn nicht pflegen. Seine Inkontinenz beschmutzt ihr Haus. Das ist der Tiefpunkt in dieser dem Leben so wunderbar abgelauschten Geschichte, die sich in ihrer poetischen Sprache so viel schöner liest als es wirklich war.

In gewisser Weise erinnert „All unsere Jahre“ an die eindrücklichen Familienromane von Anne Tyler.