Kathrin Aehnlich: Wenn die Wale an Land gehen, Kunstmann Verlag, München 2013, 235 Seiten, €19,95, 978-3-88897-859-3

„Der Wal lag auf der rechten Seite und blickte sie aus seinem in Falten gebetteten Augen unverwandt an, als erkannte er in ihr seine einäugige Seelenverwandte.“

Alles beginnt mit einem Satz unmittelbar nach Roswithas Scheidung nach gut zwanzig Jahren Ehe: „Warum hast du Mick niemals besucht?“ fragt Roswithas Ex-Mann. Irgendwann war Mick, Roswithas enger Freund aus der Studienzeit aus ihrem Leben verschwunden. Alle behaupteten, er sei über Bulgarien in den Westen abgehauen. Sein großer Traum, fort aus der sächsischen Provinz in Richtung USA reisen. Ein unerfüllbarer Traum zu DDR-Zeiten, für Roswitha eine sehnsuchtsvolle Schwärmerei, angestachelt durch die Musik von Janis Joplin und die Musiker von Woodstock. Und so fliegt Roswitha, ausgestattet mit ein paar Postkarten von Mick und einer Adresse von vor drei Jahren, über den Atlantik.
In ihren Gedanken ist sie bei Mick, dem charismatischen, kreativen und völlig durchgedrehten Mitstudenten, der eigentlich Michael Stein heißt und sich als Sohn eines „Leitungskaders“ keine politischen Extravaganzen leisten kann. Aber Mick ist nicht zu zügeln. Mit seinen Freunden Zappa, Frau Pulver und Rose alias Roswitha kreiert er sogar eine Rockoper. Die Clique konsumiert enorme Mengen Alkohol, holt sich die Welt über Westbücher in den öden Alltag und blendet doch das wahre realsozialistische Leben aus. Über einen Zeitraum schaffen es die jungen Erwachsenen sich ihren Freiraum im gut bewachten Vater Staat zu sichern, aber dann zerfällt auch diese Gemeinschaft.

„Was sie nicht ahnten: Das Grauen im Sozialismus war die Langeweile gewesen, die Berechenbarkeit des bevorstehenden Lebens.“

Die DDR ist das Land der Nischensucher, die einen flüchten in die Putzwut wie Roswithas Mutter, in die Schweigsamkeit wie ihr Vater, Roswithas Chef beruhigt sich mit Wassergläsern Eierlikör und Mick verliert sich in seinen Träumen und in seiner Wut. Eingeholt von der Tristesse des Arbeitsalltags und der täglichen Verrichtungen, die Roswitha als ermüdend inhaltsleer empfindet, geht jeder seinen sozialistischen Weg. Frau Pulver entflieht den Erpressungen durch die sie bespitzelden „Handwerker“, indem sie den Freitod wählt. Mick entschwindet aus dem Kreis der Freunde und Roswitha heiratet Wladimir, in der Hoffnung auf eine gemeinsame „Zukunft“.

„Der Sozialismus war nicht abgeschafft worden, sondern einfach in sich zusammengefallen.“

n New York landet Roswitha nach einem unfreiwilligen Zusammenstoß mit einer Türklinge und blauem Auge in dem Obdachlosenheim, in dem Mick ausgeholfen hat. Sie lernt alle möglichen Leute, auch aus der DDR kennen, die mit Mick irgendwie zu tun hatten, seinen Mitbewohner oder eine Krankenschwester, die Mick versorgt hat.
Als sie den gestrandeten Wal auf Coney Island entdeckt, scheint es ihr auch so, als sei sie wie das Tier auf einem falschen Weg.

Wenn jemand sich realitätsgetreu und vor allem ohne Sentimentalität an das Lebensgefühl in der DDR erinnern kann, dann ist es Kathrin Aehnlich. Sie hat ihr Thema gefunden und füllt es immer wieder mit Humor, wahrheitsgetreuer Erinnerung und einem Quentchen Bitterkeit aus. In ihrem neuen Roman lässt sie ihre Protagonistin Roswitha Sonntag weit reisen, um in der DDR-Wirklichkeit gedanklich wieder anzukommen. In präzisen wie klaren Sätzen bringt Kathrin Aehnlich den einst erlebten Lebensalltag auf den Punkt, sie charakterisiert ihre Figuren genau, ohne sie lächerlich zu machen. Es sind eher die tragikomischen Momente, die berühren, amüsieren und das gesellschaftliche System in seiner phasenweisen Absurdität schonungslos vorführen.