Sofka Zinovieff: Athen, Paradiesstraße, Aus dem Englischen von Eva Bonné, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2013, 415 Seiten, €15,90, 978-3-423-24969-0
„Wer die Vergangenheit nicht ruhen lässt, lebt gefährlich, denn er vernachlässigt die Gegenwart und ist blind für die Zukunft.“
Die englische Autorin Sofka Zinovieff erzählt ihren komplexen Zeit- und Familienroman aus der Sicht zweier Frauen. Maud Perifanis ist ebenfalls Engländerin und seit 15 Jahren mit dem griechischen, investigativen und komplizierten Journalisten Nikitas verheiratet. Beide leben mit ihrer Tochter Tig, dem Stiefsohn Orestes und der immer vornehm gekleideten Tante Alexandra in der „ruhigen, von Bäumen und pastellfarbenen Häusern verschiedener Baustile und Epochen gesäumten“ Paradiesstraße in Athen, einst erbaut vom Vater Alexandras, der ein Bekleidungsunternehmen führte. Antigone, die zweite Erzählerin, ist die Schwester von Alexandra und Mutter von Nikitas, eine kompromisslose Kämpferin trotz aller Desillusionierung. Sie hat ihren dreijährigen Sohn in der Familie zurücklassen müssen, um als Kommunistin und Radiosprecherin im Exil in Moskau zu leben. Gekonnt verknüpft die Autorin Politisches und Privates und erzählt eine bis in die jüngste Gegenwart reichende Jahrhundertgeschichte.
Alles beginnt mit dem Unfalltod Nikitas und den Reflexionen Mauds an ihre Zeit mit ihrem Mann, der gut 20 Jahre älter als sie war. Freimütig und liebevoll hat sie ihn in Erinnerung, aber auch distanziert, auf seine Freiheit pochend und in die Arbeit verbissen. Mit dem Tod des Sohnes, den sie als Erwachsenen nur einmal aus der Ferne in Moskau gesehen hat, schaut die alte Antigone, die geschworen hat, nie wieder griechischen Boden zu betreten, in ihre Vergangenheit. Sie entschließt sich zur Rückreise in die Heimat und rollt noch einmal vor ihrem inneren Auge alle Geschehnisse in der Familie auf, die eng mit der politischen Entwicklung Griechenlands verbunden waren. Durch die Familie ging ein entscheidender Riss. Alexandra fühlte sich früh zu Spiros hingezogen, er stand immer, später dann auch als Polizist, auf der Seite der Unterdrücker, ob es nun die deutschen Besatzer, die Engländer oder die Junta war. Antigone und ihr Bruder Markos fühlten sich aktiv zu den linken Kräften hingezogen. Geboren wurde Nikitas im Gefängnis, denn seine Mutter war zu einer lebenslänglichen Haft verurteilt. Antigone konnte ihn auf ihrer Flucht Richtung Osten nicht mitnehmen und so adoptierten die engstirnige Alexandra und der gewalttätige, tief reaktionäre Spiros das Kind. Wie spannungsreich Nikitas Kindheit und Jugend verlief, kann man sich vorstellen. Auch wenn sie ihm einredeten, seine Mutter sei verstorben, so wusste Nikitas als Erwachsener von ihrem Aufenthaltsort.
Maud beginnt nun, den Nachlass ihres Mannes zu ordnen und erkennt wie viele Geheimnisse, nicht nur beruflicher Art, er vor ihr hatte. Das Gefühl als Außenseiterin in einem fremden Land zu leben, stellt sich für Maud immer mehr ein. Auch wenn die Schwestern sich nicht sehen wollen, gerät Maud immer mehr zwischen die Fronten der beiden alten Frauen und ihrer sogenannten „Wahrheit“.
Faszinierend und trotz Schwere der Themen unterhaltsam liest sich dieser Roman und zeigt das Vermögen der Autorin, lebendige Gestalten zu schaffen. Der historische Blick in die griechische Vergangenheit erzählt von allem, was Menschen sich gegenseitig antun können. Es geht um Schuld, maßlose Gewalt, politischen Fanatismus, Verdrängung, bedenkliches Schweigen und tiefen Hass.
Antigones Mutter kann in den Wirren des Krieges nicht verkraften, dass sie ihren Sohn Markos verlieren musste. Alle Schuld an seinem Tod schiebt sie der Tochter zu. Ein Grund, weshalb Antigone auch zurückgekehrt ist, ist die Suche nach dem Grab des Bruders.
Geschockt, besonders von Antigones ewig gehütetem Lebensgeheimnis, aber auch berührt und beeindruckt vom epischen Atem der Autorin, dem historischen Wissen und den atmosphärischen Beschreibungen der unterschiedlichen Zeitepochen bis 2008 taucht der Leser tief in die europäischen Konflikte und ihre Abgründe ein.
nEin faszinierender, hochkonzentrierter Roman – absolut empfehlenswert!
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