Alexandra Kuitkowski: Die Welt ist eine Scheibe, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013, 144 Seiten, €17,99, 978-3-455-40359-6
„Wiebke hatte gehofft, je mehr sie an Höhe gewinnt, desto zuverlässiger versetzt sie der Abstand in die Lage, ihr Zuhause, ihre Familie und alles, was ihnen passiert ist, in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, ihre Nöte, auch die schwerwiegenden: letztendlich kaum mehr als eine Verschattung, nebensächlich wie ein umgeknickter Halm auf einer blühenden Wiese.“
Nichts scheint mehr so so sein, wie es mal war. Wiebke Voss hat es sich mit allen Menschen ihrer näheren Umgebung, wie auch immer, verdorben. Nun sitzt sie ziemlich verwirrt wie auf der Flucht auf einer Rotbuche und betrachtet die aufgeregten Leute, die das Feuer unter ihr löschen. Hat Wiebke das immer teurer werdende Heu, in dem sich vorher noch ihr Vater und Jana amüsiert haben, angezündet? Wiebke weiß, „Das Kind von damals gibt es nicht mehr…“, aber eine erwachsene Wiebke auch nicht. Die zurückliegenden Ereignisse kreisen in Wiebkes Kopf, die Erinnerungen, der Kummer, das Trauma. Als Tochter eines Landwirtes, immerhin befindet sich der Hof bereits in der neunten Generation, muss Wiebke mitanpacken, kann sich nicht ständig vor der schweren Arbeit drücken. Als Kind in der Mitte, so empfindet sie es, spielt sie keine Sonderrolle, so wie der älteste Bruder oder ihre neun Jahre jüngere Schwester Irmi. Sie hat sich ohne Scheu mit den extravaganten Hausbauern im Neubaugebiet, der Familie Strasser und ihrem Sohn Luis angefreundet. So kommen sich auch die Familien Strasser und Voss, beide irgendwie von anderen Planeten stammend, näher. Clemens Strasser ist Radiomoderator, seine Frau Jana Musikdozentin. Sie ermutigt die Mädchen, einen Chor zu gründen und Wiebke träumt von der großen Musikkarriere.
Aber dann überschattet ein tragisches Unglück „die heile Welt“, die die Strassers auf dem Land so sehnlich gesucht haben. Ihr sanfter Sohn Luis kommt von einem Bootsausflug auf der Elbe nicht mehr zurück. Verantwortlich fühlt sich Wiebkes Vater, der seine Töchter und Luis begleitet hatte. Nach Polizeiverhören läuft der von Depressionen und Schuldgefühlen geplagte Mann im Dorf Spießruten. Und nun hat Wiebke ihn mit Jana gesehen.
In der Siebzehnjährigen brodelt es. Immerhin musste sie sich den gehässigen Dorfklatsch der Frauen anhören. Sie fühlt, wenn auch nur gering, mit ihrer Mutter mit, erträumt sich gleichzeitig naiv ein Leben weit fort vom Dorf mit Clemens.
Wiebkes Sicht auf die Geschehnisse zeugen von einer kindlich-naiven Art, die Dinge zu betrachten. Sie fasziniert die Andersartigkeit und Weitläufigkeit der Neuzuzügler, ja, sie ist fast neidisch auf den kleinen Luis und zugleich wünscht sie ihm alles Schlechte. Sie fühlt sich plötzlich wichtig als die Polizei und die Presse das Boot und die Geschehnisse ins Visier nehmen und erkennt kaum den Verlust und die Folgen, die Luis‘ plötzliches Verschwinden auslösen werden. Auch wenn ihr Blick vom Baum aus distanziert ist, sie hat vieles nicht verstanden. Nur Anna, ihre langjährige Freundin, sieht klar und kann das peinlich angedeutete Liebesspiel zwischen Clemens und Wiebke nicht verstehen. Ein Grund mehr, warum Wiebke auch hier den Kontakt abgebrochen hat. Dicht und vor allem sprachlich faszinierend, als wäre jedes Wort genauestens abgewogen, erzählt Alexandra Kuitkowski von einer jungen Frau, die auf dem Weg zum Erwachsenwerden ist. Alles spielt sich an einem Nachmittag und in die Nacht hinein in Wiebkes Gedanken ab und doch zeichnet sie so ein genaues Bild der Geschehnisse, die sich dem Leser erst nach und nach erschließen. Die Gedankenfetzen der Protagonistin sind ungeordnet, mal gut beobachtet, dann verlieren sie sich wieder in Unwichtigem.
Wiebke sucht die Freiheit, um sich aus der familiär bedingten Enge und deren Traditionen lösen zu können. So bleibt ihr Blick auf die Welt vorerst beschränkt: „ Ihr Revier: die Scheibe: weiter Horizont, erst in der Ferne von Überlandleitungen und Windrädern zerschnitten, die Äcker teils eben, teils sanft geschwungen, Mais, zur Zeit noch kindshoch, Gerste, Roggen, Weizen. Mattes Ährengold. Wenn sie doch immer so weiterschweben könnte, über die Jahrhunderte hinweg.“
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