Dirk Kurbjuweit: Angst, Rowohlt Verlag, Berlin 2013, 256 Seiten, €18,95, 978-3-87134-729-0
„Wir begannen, unser Leben zu spielen, es wurde zu einer Aufführung für unsere Kinder.“
Bereits vor 10 Jahren musste Dirk Kurbjuweit mit seiner Familie erfahren, wie es ist, wenn eine völlig fremde Person, die in der unmittelbaren Nähe wohnt, mit Worten sein Privatleben vergiftet. Literarisch verarbeitet hat der Journalist und Autor diese verstörenden Erlebnisse in seinem Roman. Bereits die Eingangsszene löst Neugier, Spannung und auch Verwirrung aus. Randolph Tiefenthaler besucht seinen 78-jährigen Vater nicht im Altersheim, sondern in einem Berliner Gefängnis. Er wurde für Totschlag zu acht Jahren verurteilt. Der Vater begegnet dem Sohn in sich gekehrt, unnahbar und doch haben Vater und Sohn gelernt sich zu umarmen. Was ist geschehen?
Im Rückblick erzählt der Sohn nun die Leidensgeschichte seiner Familie, er holt weit aus, beginnt mit der Kindheit, die auch durch seinen Vater stark beeinflusst wurde. Dieser verschlossene, unsichere Vater trägt in jeder Situation eine Waffe unter der Armbeuge, ohne sie je auf jemanden zu richten. Fürs Sportschießen kann sich der junge Randolph und auch nicht sein jüngerer Bruder begeistern. Randolphs Kindheit und Jugend ist von dem Gefühl überschattet, der Vater könnte in einem Anfall von Wut und Unberechenbarkeit die Waffe auf Familienmitglieder richten.
Randolph Tiefenthaler verabscheut jegliche Form von Gewalt, ob nun mit Waffen oder Fäusten. Und doch gerät er durch seinen Nachbarn, Herrn Tiberius, der in der Souterrainwohnung des gutbürgerlichen Hauses in Lichterfelde – West seit Jahren wohnt, in einen schweren, inneren Konflikt. Familie Tiefenthaler hat die gediegene Altbauwohnung über Herr Tiberius gekauft. Man lebt äußerlich betrachtet ein gut bürgerliches Leben. Randolph kann als Architekt ein gutes Einkommen vorweisen, er hat eine attraktive, kluge Frau und zwei wohlgeratene Kinder, für die alle Tore offenstehen.
Aber die Ehe ist in eine Schieflage geraten, immer wieder kommt es zu hysterischen Ausbrüchen Rebeccas und Tiefenthaler sucht das Weite. Zu diesem Zeitpunkt schlägt die freundliche Art des Herrn Tiberius um. Er beginnt die Familie mit Briefen und Gedichten zu belästigen, die allesamt an Rebecca, Tiefenthalers Frau, gerichtet sind. Tiberius malt sich in seiner kranken Fantasie sexuelle Szenen mit Rebecca aus, beschuldigt die Familie und deren Besucher, dass sie die Kinder missbrauchen. Wie ein Stalker beobachtet er jeden Schritt der Familie, schaut abends in die Fenster, lenkt ein und wiederholt seine Anschuldigungen am kommenden Tag noch heftiger. Er zeigt die Familie wegen sexuellen Missbrauchs an.
Jegliche Hoffnungen der Familie, die juristischen und polizeilichen Beistand erwarten, werden bitter enttäuscht. Niemand kann Herrn Tiberius aus seiner Wohnung entfernen. Das Sozialamt zahlt pünktlich die Miete, der Vermieter weigert sich etwas zu unternehmen und das Heimkind und der Hartz IV – Empfänger Tiberius kann ununterbrochen schreiben und quälen.
Alle Attacken des Stalkers jedoch schmieden die Eheleute erneut eng zusammen, bewirken wieder, dass sie miteinander reden, sich gedanklich austauschen und versuchen, Herr der ausweglosen Situation zu werden. Jedoch die Wohnung verlassen, dem Eindringling in die privater Sphäre diese Genugtuung zuzubilligen, kommt nicht in Frage, denn sie fühlen sich im Recht. Immer mehr greift aber auch die Angst in den Lebensalltag ein. Was geschieht, wenn wirklich ein Amt misstrauisch wird und die Kinder mitnimmt. Oder wenn Tiberius die Kinder in die Finger bekommt? Der Argwohn flackert sekundenweise gegen den Partner auf, ob nicht doch an dieser Geschichte etwas sein könnte. Der „Terror der eigenen Gedanken“ scheint so das schlimmste an der bedrückenden Lebenssituation der Betroffenen zu sein.
Da die Justiz die Familie nicht schützen kann oder keine Handhabe hat, muss man, und diese Erkenntnis nimmt in Randoph Tiefenthalers Gedankenwelt immer mehr Raum ein, zur Selbstjustiz greifen. Nie hätte der Erzähler gedacht, dass er roher Gewalt und nicht rechtsstaatlichem Denken den Vorzug geben würde. Doch der Psychoterror lässt ihm letztendlich keine Wahl. Ist es so? Gerechtfertigt der gewaltsame Tod des Stalkers alle Qualen und Ängste, die die Familie ertragen musste?
Mit diesen Fragen lässt der Autor, der diese Geschichte völlig schmucklos und gezielt auf die Innenwelt seines Ich-Erzählers hin geschrieben hat, seinen Leser nach dieser äußerst spannenden Lektüre allein. Die Tatsache, dass man seinen Eltern und deren Prägung nicht entkommen kann, beängstigt ebenfalls. Und klar ist, dieses geschilderte Szenario, das wirklich so ( ohne Mord, aber den hat sich der Autor in seiner Fantasie sicher mehr als einmal ausgemalt ) geschehen ist, spielt vor dem Stalker-Gesetz.
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