Raquel J. Palacio: Wunder, Aus dem Englischen von André Mumot, Carl Hanser Verlag, München 2013, 375 Seiten, €16,90, 978-3-446-24175-6
„ Sie sagte Worte, von denen ich weiß, dass sie mir helfen sollten, aber Worte können mein Gesicht nicht verändern.“
Der zehnjährige, feinfühlige August ist es gewohnt, dass die Erwachsenen einen kurzen Moment inne halten, wenn sie ihn ansehen. Kinder sind da ganz anders, sie laufen schreiend weg oder sagen irgendetwas Blödes, wenn sie August zum ersten Mal ins Gesicht schauen. In solchen Momenten schreitet Olivia, die ältere Schwester von August, die alle Via nennen, ein und beschimpft die Kinder. August hat sich die Haare lang wachsen lassen, um seine Ohren, die kaum vorhanden sind und die Augen zu verdecken. Als er geboren wurde, gab niemand ihm eine Chance. Nun nach vielen Operationen scheint er das Schlimmste überstanden zu haben, aber sein Gesicht und Kopf ist durch diesen seltenen Genfehler innerhalb der Familie entstellt. Zombie sagen die Kinder zu ihm oder Missgeburt. Bis zur 5. Klasse hat die Mutter den Jungen zu Hause unterrichtet, nun soll August an eine normale Middle School gehen. Er wohnt an der nördlichsten Spitze von Manhattan und hier wäre die Beecher Prep genau richtig für ihn.
Drei Kinder, Julian, Charlotte und Jack, sollen August den Einstieg in die neue Schulsituation erleichtern. Zwischen Julian und August kommt es sofort zu Spannungen, Jack dagegen ist freundlich zu dem Neuen. Wenn August eines möchte, dann einfach nur Normalität. Niemand soll ihn anglotzen, ihn für behindert halten oder dumm. August hat den Aufnahmetest der Schule sofort bestanden, er hat eine schnelle Auffassungsgabe und einen guten Charakter. Liebevoll und vielleicht zu behütet ist er aufgewachsen. Jetzt muss er sich der realen Welt stellen und die macht ihm das Leben enorm schwer. Eigentlich sind es gar nicht die aggressiven Blicke Julians und seine fiesen Manöver, die August weh tun, es ist eher die Erkenntnis, dass derjenige, den er für seinen Freund hielt, hinter seinem Rücken etwas ganz anderes erzählt.
Aus mehreren Perspektiven schaut die amerikanische Autorin in ihrem Debüt auf Augusts Leben. Er selbst kommt zu Wort, aber auch Summer, das Mädchen, das in der Cafeteria dem einsamen Jungen Gesellschaft leistet
( ohne Bitte der Lehrer ) und nun jeden Tag mit ihm redet. Via erzählt aus ihrer Sicht von ihrem Alltag mit dem Bruder, den sie über alles liebt, der ihr aber auch vieles genommen hat, zum größten Teil die Aufmerksamkeit der Eltern. Jack setzt sich mit seinem Verhältnis zu August auseinander und auch Justin, der neue Freund von Via.
Berührend liest sich diese Geschichte eines ganz normalen Jungen, der einfach nicht normal sein darf, weil die Gesellschaft sich nicht nach inneren Werten richtet, sondern nach Äußerlichkeiten. Oftmals sind die guten Vorsätze der Erwachsenen dann auch eher für August hinderlich als wirklich hilfreich. Präzise und mit untrüglichem Gespür für feinste seelische Regungen entwirft Raquel J.Palacio ein gestochen scharfes Bild menschlicher Hoffnungen und Abgründe. In vielen Momenten schafft es die Autorin den jungen Leser dafür zu sensibilisieren, wie sich jemand fühlt, der automatisch von einer gut funktionierenden Gesellschaft einfach an den Rand geschoben wird. Wie hart und erbarmungslos Kinder anderen Kindern gegenüber sein können, Erwachsene eingeschlossen, davon kann August viele Geschichten erzählen.
Aber August wird seinen Weg finden, denn er ist und bleibt das Wunder in diesem herausragenden Roman.
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