Anna Enquist: Die Betäubung, Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, Luchterhand Verlag, München 2012, 320 Seiten, €19,99, 978-3-630-87400-5

„ Wenn man erkennt, was wirklich in einem vorgeht, fühlt man sich besser, so unangenehm die Empfindungen auch sein mögen.“

So die Ansicht der Psychoanalyse. Wenn man tief zum Schmerz vordringt, erst dann kann man sich frei fühlen. Das weiß auch die niederländische Autorin Anna Enquist, die als Konzertpianistin und Psychoanalytikerin von dem schreibt, was sie erfahren hat. Das Klinikum der Freien Universität Amsterdam lädt Schriftsteller dazu ein, den Alltag einer Abteilung des Krankenhauses zu begleiten; dieser Einladung ist auch Anna Enquist gefolgt.

So pendelt sie in ihrem Roman zwischen dem stressigen Krankenhaustrubel, den Suzan als Anästhestin erlebt und der Einsamkeit im beruflichen Alltag, den ihr Bruder Drik, ein Psychiater mit eigener Praxis, erfährt. Driks Frau Hanna ist früh an Krebs verstorben. Suzan, ihre Freundin, hatte sie bis zum Ende gepflegt.
Jetzt stürzt sich Suzan wieder kopfüber in die Hochs und Tiefs zwischen Patient und Arzt und Drik beginnt, langsam seine Praxis für Patienten zu öffnen. Beide Geschwister betäuben ihren Kummer mit Arbeit, und doch beginnt Drik an sich und seinem Urteilsvermögen zu zweifeln. Er soll den jungen Arzt Allard therapieren und findet keinen Zugang zu dem schwierigen Mann, der die Psychiatrie als sein Spezialgebiet immer mehr in Frage stellt.
Drik scheut sich davor, seinen dementen Vater im Heim zu besuchen. Er hat kein Gefühl für ihn. Durch den frühen Tod der Mutter, großgezogen wurden sie von der unnahbaren Tante Leida, klammern sich eher die Geschwister aneinander. Drik jedoch will sich aus dem engen Verhältnis zur Schwester lösen. Suzan spürt aber auch die Distanz zu ihrer Tochter Roos, die nach dem Tod Hannas zu Hause fluchtartig ausgezogen ist. Niemand kommt dem anderen zu nahe, niemand stellt Fragen, rüttelt an Türen, fordert Wahrheiten – alles. Vergangenheit wie Gegenwart, wird im Arbeitsalltag, in den täglichen Verrichtungen verdrängt.
Als Suzan als Supervisorin Allard, der den Arbeitsbereich gewechselt hat, betreuen soll, beginnen beide eine verhängnisvolle Affäre. Drik schweigt, obwohl er Kenntnis von dieser Verbindung hat und Allard steigert sich in eine Vorstellung hinein, die mit der realen Wirklichkeit nichts zu tun hat.

Wehmütig ist diese Geschichte über Menschen, die sich nahe sein könnten und es nicht vermögen, einander wirklich beizustehen und zu stärken. Anna Enquist konfrontiert den Leser mit den Gedankengängen und dem zerrütteten Seelenleben ihrer Figuren, die äußerst kontrolliert und rational agieren.
Suzan geht in ihrer helfenden Arbeit auf, Schmerzen zu betäuben und Drik will durch genaues Hinsehen und Hinhören den Patienten genau zum Schmerz hinführen, um ihm zu heilen.

Am Ende jedoch driften alle Figuren auseinander und sind in dieser „unbegreiflich grausamen Welt“ gescheitert.