Zoran Drvenkar: Der letzte Engel, cbj, München 2012, 432 Seiten, €16,99, 978-3-570-15459-5

„Hast du schon versucht, zu fliegen?“
„Ich bin aufgewacht, und die Dinger waren dran, da denkt man nicht ans Fliegen.“
„Du könntest es ausprobieren.“
„Lars, ich könnte dich auch rausschmeißen.“
„Ich mein ja nur“, sagt Lars lahm.“Irgendwann musst du ja vor die Tür gehen.“
„Danke, genau das wollte ich hören.“

In allen drei Bänden von Zoran Drvenkars „Kurzhosengang“ erscheint bereits ein Schutzengel, der Zement mal mitfühlend, mal meckernd zur Seite steht. Und dann plötzlich erscheint vor Zoran Drvenkars innerem Auge vor acht Jahren eine Szene, wie aus dem Unterbewusstsein hervorgespült: ein Jugendlicher steht morgens auf, schaut verschlafen in den Spiegel und entdeckt entsetzt zwei Flügel an seinem Rücken.
Zoran Drvenkar sagt dazu: „ Ich glaube, ich schreibe nicht wirklich über Engel. Ein bisschen schreibe ich über uns als Menschen. Ich sehe ja noch eine Hoffnung für uns. Ich habe immer das Gefühl, irgendwas fehlt uns, irgendwas ist uns abhanden gekommen und das ist das Thema meiner Geschichte. Das was uns abhanden gekommen ist, sind meine Art von Engeln, irgendwas was die hatten, danach sehnen wir uns, das verlangen wir und darum suchen wir sie immer wieder.“ Doch was mag das sein? Unsterblichkeit? Ein Mittel, um unsere Angst vor dem Tod zu lindern?
Als der 16-jährige Motte eine Mail von einem Unbekannten liest, in der ihm prophezeit wird, dass er am kommenden Morgen tot sein wird, hält er alles für einen miesen Scherz. Aber dann bewahrheitet sich das Unerklärliche. Motte erwacht in seinen Garfield–Shorts, ihm sind tatsächlich Flügel gewachsen, sein Herzschlag hat ausgesetzt, er ist fortan geschlechtslos und erfährt noch, dass er der letzte Engel auf Erden ist. Lars, sein bester Freund, eilt zu Motte und kann ihn im Gegensatz zum Vater trotz Verwandlung sehen.
Im Laufe des Romans, der in historisch unterschiedlichen Zeitepochen spielt und aus verschiedenen Figurenperspektiven erzählt wird, stellt sich heraus, Motte ist längst nicht der letzte Engel, der auf Erden weilt. Mottes Vater und Mutter sind nicht seine biologischen Eltern. Sie stammen aus den Häusern der sogenannten Familie, russischen Angehörigen des Adels, deren Leben sich nach einem sensationellen Fund auf den Faröer Inseln völlig verändert. Entdeckt werden zwei Skelette mit vier Flügeln, Engel mit Wunden von Kämpfen.
Weit zurück liegt die Geschichte der wahren Engel auf Erden.

Zoran Drvenkar erklärt: „ Ich tue ja so ’ne Art Mythologie auf und sehe uns als die zweite Menschheit und die erste Menschheit ist schon untergegangen. Und da gab es die Engel und die hatten damit was zu tun. Und wir sind die zweite Menschheit und es gibt so eine Art Prophezeiung und die versucht die Bruderschaft aufzuhalten.“

Die Bruderschaft, eine Gruppe von gnadenlosen Söldnern unter der Führung des alten, hart gesottenen Lazar, tötet mit brutalster Gewalt alle Engelsnachkommen, die die Familie nun mit Hilfe der Wissenschaft und Genetik im Labor züchtet. Auch Motte ist im Visier der Bruderschaft. Gewarnt wurde der Jugendliche von der 10-jährigen Mona, die aus ihrem Haus der Familie beim Überfall der Bruderschaft entfliehen konnte. An ihrer Seite ist Esko, ein Engel, den sie durch ihre magischen Fähigkeiten aus der Erinnerung in die Gegenwart geholt hat. Esko und Mona schrieben auch die Mail an Motte. Zu Mona will die Familie natürlich Kontakt aufnehmen, aber das Mädchen kümmert sich erstmal um ihre toten Schwestern, die als Geister ihren Mörder aus der Bruderschaft, Lazar, der einst selbst ein Engel werden sollte, verfolgen. Und Mona teilt sich ihr Bewusstsein mit Königin Theia, die die erste Menschheit in den Abgrund geführt hat.

Zahlreich ist das Personal, das in Zoran Drvenkars Handlung, von der er sich selbst am meisten überraschen ließ, auftreten. Es gibt erfundene, aber auch historisch belegte Figuren, wie Otto von Kotzebue, den Zaren, der sich 1825 für tot erklären ließ und weiterlebte oder die Brüder Grimm. Im Laufe der Lektüre, die nur wenige Tage, aber um so mehr Rückblenden und Reflexionen umspannt, gewinnt der Leser nach und nach den Überblick, indem er alle raffiniert konstruierten Erzählstränge zusammensetzt. So rollt der Autor die Geschichte von hinten auf und hofft auf einen Leser, der sich auf diese Methode einlässt.

Ohne eine zwischengeschaltete Parallelwelt spielt Zoran Drvenkar mit den unheimlichen, düsteren Ereignissen rund um die Engel und deren Widersacher, die gleich nebenan im Haus, passieren könnten. Eine Prophezeiung schwebt über der Geschichte, die besagt, wenn der letzte Engel seinen letzten Atemzug macht, dann geht die Welt unter. Das will die Bruderschaft mit allen Mitteln verhindern.

Bis zum Ende wird nicht deutlich, welche Kräfte nun die Oberhand gewinnen werden. Die entdeckten Engelsflügel verlängern dem, der sie berührt, das Leben. Doch geht es Zoran Drvenkar nur um die Angst vor dem Tod oder eine eigene Weltdeutung? Vielleicht beantwortet das der zweite Band