Penelope Lively: Familienalbum, Aus dem Englischen von Maria Andreas, C.Bertelsmann Verlag, München 2012, 288 Seiten €17,99, 978-3-570-10067-7

„Hallo und willkommen zum Familienprogramm. … Heute besuchen wir eine große Familie – eine Familie mit sechs Kindern, da könnten manche sagen, ein Rückfall in rückständige Zeiten, aber an den Harpers ist überhaupt nichts Verstaubtes, von der modebewussten Sandra bis zur langbeinigen Clare, die noch zur Schule geht.“

Die Familie Harper lebt in einer großzügig geschnittenen Vorstadtvilla, genannt Allersmead, mit großem Garten. Breit ist die Treppe zum Eingang, imposant die Buntglasfenster und der riesige Tisch in der Küche. Glücklich soll die Kindheit sein, das erhofft sich die praktische, wie fast immer gut gelaunte ( manchmal auch einfältige ) Alison Harper für ihre künftigen Nachkommen beim Kauf des weiträumigen Hauses. Charles Harper, Universalwissenschaftler und Eigenbrödler, erwartet nur ein großes Arbeitszimmer für seine Buchregale und Ruhe. Bücher mit leidlig kommerziellem Erfolg über alle möglichen Sachthemen schreiben, das ist sein Metier und alles andere regelt Alison. Sechs Kinder wird Alison in diesem Haus mit Hilfe des treuen Au-pair-Mädchens Ingrid aus Schweden großziehen: Paul, Gina, Sandra, Katie, Roger und Clare.
Ihren Lebensstil, der sich ganz auf das Private orientiert, verdanken die Harpers einer Erbschaft, die dank der entwickelten Putzmittel eines Verwandten genug Dividende abwirft.

Eine Kette von Erinnerungen, die einsetzen als die Kinder bereits als Erwachsene das Haus verlassen und ihr eigenes Leben weit fort von Allersmead verbringen, reiht Penelope Lively nun aus der Sicht mal von den Kindern, mal von Alison oder Charles aneinander. Gina arbeitet als erfolgreiche Journalist, Sandra führt in Italien eine Boutique und saniert neuerdings Wohnungen, Roger ist als Kinderarzt in Toronto tätig, Katie hat ebenfalls das Weite gesucht und Clare tanzt in Paris. Nur Paul, der Älteste, ist immer noch auf der Suche nach seiner Passion. Vom Vater oftmals durch seinen Sarkasmus in die Enge gedrängt, verfiel Alisons Liebling den Drogen und dem Alkohol.

Jedes der Kinder blickt mit einer seltsamen Bitterkeit zurück, als wäre Familie, keines der Kinder hat eigene Kinder ( nur Roger wird zum Ende der Geschichte die Schwangerschaft seiner Frau verkünden ), eine Strafe, eine Peinlichkeit. Auch pflegen sie kaum Kontakt untereinander. Sandra, die Schöne und Gina, die ständig alle provozierende, hassen sich wie die Pest, nur Katie und Roger sind sich nahe, vielleicht auch Gina und Paul auf eine unverbindliche Weise. Clare ist die Jüngste und sie umwabert ein Geheimnis, denn sie hat im Gegensatz zu allen Kindern strohblondes Haar wie Ingrid.
Als Gina ihrem Freund Philip zu Beginn der Handlung die Eltern vorstellt, ist Allersmead bereits stark verfallen und doch voller Erinnerungen an die Kindertage, an die Spiele im Keller, an die Stimmen, die durchs Haus schwirren.

Die ständig lächelnde Alison betört alle mit ihren Kochkünsten, die sie später als Kurse anbieten wird. Ohne die stoische Ingrid jedoch würde sie organisatorisch in der Flut der Aufgaben im Haushalt untergehen. Ob die Kinder in irgendeiner Weise erzogen wurden, bleibt im Unklaren. Ihren Interessen jedenfalls konnten alle ungehindert nachgehen. Charles fühlt sich für die Kinder nicht zuständig, er ist nicht der Vater, der mit den Jungen Fußball spielt oder die Mädchen zum Ballettunterricht begleitet. Er diskutiert mit Gina, aber letztendlich bleibt er seinem Vorsatz treu: Es wird sich alles schon irgendwie regeln. Und das passiert auch. Alison fühlt je älter die Kinder werden, eine immer größere Distanz zu ihren Nachkommen und empfindet sie, wenn sie dann mal da sind, als Fremdkörper. Seltsam erscheint den Kindern immer, wie wenig sich ihre Eltern zu sagen haben, ob nun im Haus oder bei Urlauben. Nach der Silberhochzeit fragt Alison Charles, warum sie geheiratet haben. Seine lapidare Antwort, sie war schwanger.

Die Familientraditionen hält Alison hoch, versucht Geburtstage zu Ereignissen werden zu lassen und die Anwesenheit zu Weihnachten ist Pflicht, nur Paul schert aus, wenn er kann. Fast herablassend und seltsam arrogant schaut Alison auf Familie mit gerademal einem oder zwei Kindern. Unvergesslich, der deutsche Austauschschüler, der es bei den Harpers nicht mal eine Woche ausgehalten hat.

Mit schalem Blick schaut Corinna, Alisons Schwägerin, auf das Gewusel in der Familie ihres Bruders. Als kinderlose Akademikerin kann sie mit Alisons Geplapper nichts anfangen, genauso wenig mit ihrem Bruder.

Und so reihen sich fantastisch lebendig, sehr konventionell erzählt eine Episoden aus dem Alltagsleben der Familie Harper an die andere. Mal verweilt Penelope Lively im Jahre 1982, dann wieder ist sie im Jahr 1975, sie setzt die Familie an den gedeckten Tisch zur Silberhochzeit, zeigt sie bei einem Picknick, in der Gegenwart oder sehr frühen Kindheit der sechs Kinder. Wie ein Auslaufmodell wirkt diese kinderreiche Familie Harper mit ihrer riesigen Villa, der traditionellen Rollenaufteilung zwischen den Eltern und dem alten Au-pair-Mädchen. In ihrer näheren Umgebung, in der Straße ist die Zeit nicht stehengeblieben, wirkt alles moderner, aber davon und den sich anbahnenden, finanziellen Problemen will Alison nichts hören. Sie trägt weiterhin ihr taillenloses Zeltkleider, kocht voller Leidenschaft und hängt der Vergangenheit und ihrer verklärten Erinnerung hinterher.

Wirklichkeitsnah wirken alle Figuren, die die englische Autorin, vor dem inneren Auge des Lesers agieren lässt und das macht diese teils komische, teils wehmütig stimmende Familiengeschichte so lesenswert.