Kati Naumann: Fernwehland, HarperCollins Verlag, Hamburg 2025, 416 Seiten, €24,00, 978-3-365-00743-3
„Eine nette Stewardess führte sie zu ihrer Dreipersonenkabine mit Etagenbett auf einem der unteren Decks. Sie zeigte ihnen auch die gemeinschaftlich genutzten Bäder und Toiletten. Da die Völkerfreundschaft nun für einen Arbeiter-und-Bauern-Staat fuhr, war sie zu einem Einklassenschiff umfunktioniert worden.“
Das erste Kreuzfahrtschiff der DDR, die Völkerfreundschaft, die die DDR den Schweden abgekauft hat, trug im Laufe ihres „Lebens“ gut zwölf verschiedene Namen. 2019 heißt sie Astoria.
Hier setzt die Handlung ein. Henri und Simone, ein Rentnerpaar, gönnt sich eine Fahrt, möglich auch durch die Erbschaft, die Henri gemacht hat. Beide kennen sich seit sechsundvierzig Jahren, denn Henri hatte einst als Matrose und Simone als Stewardess auf der Völkerfreundschaft gearbeitet. Henri ist in Sachsen groß geworden, Simone an der Ostseeküste. Beide erfüllen sich einen gemeinsamen langen Traum, denn sie verbinden privat und beruflich ihre schönsten Zeiten mit diesem Kreuzfahrtschiff. Allerdings sind sie erst vor Kurzem ein Paar geworden. Warum sie sich aus den Augen verloren hatten, wird erst am Ende des Romans enthüllt und hat mit dem Bruch innerhalb von Henris Familie zu tun, der für ihn alles verändert hat und seine berufliche Laufbahn abrupt beendete. So könnte diese Fahrt auch zur Versöhnung beitragen.
Von Poole jedenfalls geht die Reise in Gegenwart und Vergangenheit nun durch den Ärmelkanal, an Göteborg und Polen vorbei.
Kati Naumann erzählt zeitversetzt von der Kindheit, Jugend und dem Erwachsenenleben von Henri, seinem Vater Erwin, der seine Leidenschaft für die Seefahrt nie ausleben konnte, und Simone. Auf dem Schiff begegnen Henri und Simone in der Gegenwart der sehr alten Schwedin Frida, auch sie fühlt sich dem Schiff sehr verbunden. Zu den dreien gesellt sich eine sehr junge Frau aus Hannover namens Elli, die offenbar ein Geheimnis hütet und deren Gegenwart Henri nicht sonderlich angenehm ist. Indem die Autorin Kati Naumann von den Schicksalen der einzelnen Protagonisten erzählt, öffnet sie auch den Blick auf die deutsche Geschichte, insbesondere die der DDR. Durch Henris Lebensweg zeigt sie, wie hartnäckig er seinem Wunsch, zur See zu fahren, gegen alle Widerstände in der Familie, insbesondere gegen seinen parteitreuen Großvater, durchgesetzt hat. Die Sehnsucht nach dem offenen Meer entgegen aller Mangelwirtschaft in der DDR zieht sich als roter Faden durch die Geschichte. Allerdings haben sich auch Fehler eingeschlichen. Als die junge Familie, Erwin, seine Frau Marion und auch sein Sohn Henri, sicher eine große Ausnahme, 1961 mit der Völkerfreundschaft nach Kuba fahren durften, bewundert Erwins Frau das Büfee.
„Während Marion, die nur belegte Schwarzbrotscheiben kannte, sich für die bunten Weißbrothäppchen begeisterte, drängten Erwin und Henri zur Eile. Sie wollten sich das Schiff ansehen.“
Sicher kannte man 1961 bereits in der DDR Weißbrot. Glaubwürdigkeit ist gerade in Romanen über die jüngste Vergangenheit, insbesondere die DDR eine Voraussetzung, um die gesellschaftlichen Zustände realistisch zu schildern. Und so mutet vieles in diesem Roman eher holzschnittartig an.
Die Sehnsucht nach der Weite des Meeres und für DDR-Bürger exotischen Ländern hat Henri auf jeden Fall bewegt, als Übersee – Matrose zu arbeiten, ohne jemals an Flucht zu denken. Die Abgeschlossenheit der DDR hat sicher auch zur friedlichen Revolution geführt und interessant wäre auch gewesen, zu erfahren, wie die fiktiven Figuren von Kati Neumann gerade die Wende in der DDR auch beruflich erlebt haben.
Und doch ist der Roman atmosphärisch stimmig erzählt und gewährt einen tiefen Einblick in die deutsch-deutsche Geschichte.