Prune Antoine: Eine Frau in Deutschland, Der Fall der Christiane K., Aus dem Französischen von Theresa Benkert, Hanser Berlin in der Carl Hanser Berlin GmbH, Berlin 2025, 248 Seiten, €25,00, 978-3-446-28271-1
„Der Rechtsmedizinerin zufolge muss die Tat eine gute Stunde gedauert haben, der Tod setzte bei jedem Kind etwa nach drei Minuten ein, die Leichen hatten beim Auffinden Schaum im Mundwinkel, nicht zu vergessen die violetten Male auf den kleinen starren Körpern. Todesursache: Ersticken oder Ertrinken.“
Eine grausige Nachricht in der Zeit der Pandemie. Die achtundzwanzigjährige Christiane K., wohnhaft in Solingen, hatte ihre fünf Kinder getötet. Nach der Tat rief sie die Schule ihres elfjährigen Sohnes Alex an und bat ihn unter einem Vorwand, sie zu treffen. Die Absicht: Sie wollte sich mit ihm vor einen Zug werfen, was sie dann auch allein versuchte, aber überlebte. Die Folge: eine Zeitungsnotiz, ein Aufschrei in einer Zeit rigider Maßnahmen und Schlagzeilen für Boulevardblätter.
Doch wer ist diese junge Frau, die immer wieder behauptet, ein maskierter Mann habe sie zu den WhatsApp – Nachrichten nach dem Ableben der Kinder an ihre Mutter und ihren Ex-Mann Tobias gezwungen und er sei auch für den Tod der Fünf verantwortlich.
Die Journalistin Prune Antoine interessiert sich für den Fall, will wissen, was geschehen ist, wer Christiane K. ist. Zwei Jahre wird sie, so gut wie es geht, alle wichtigen Informationen aus dem Leben von Christiane K. intensiv zusammentragen, Akten wälzen, mit Beteiligten sprechen, sich mit ihrer eigenen Mutterschaft und der Situation von Frauen im Strafvollzug beschäftigen.
Sie wird versuchen sich fiktiv in die Menschen hineinzuversetzen, die enge Bezugspersonen von Christiane K. waren, aber jeglichen Kontakt zur Presse abgelehnt haben. Ein schwieriges Unterfangen. Und sie wird Christiane K. auch persönlich kennenlernen.
Als die Tat geschieht, lebt Christiane K. mit ihren sechs Kindern in einer 100 m² Wohnung, unterstützt von staatlicher Hilfe und Wohngeld, in der Solinger Vorstadt. Zu ihrem multikulturellen Umfeld hat sie keinerlei Kontakte, mag die fremden Gerüche im Treppenhaus nicht, das Geschrei mitunter und die Gewaltausbrüche, die die Nachbarn aus ihrer eigenen Wohnung mit den dünnen Wänden ebenfalls hören können. Ihre Kinder haben drei Väter, die letzten vier Kinder stammen von Tobias, mit dem Christiane sieben Jahre verheiratet ist. Nun hat sie die Scheidung eingereicht, denn Tobias ist labil, notorisch eifersüchtig und absolut unzuverlässig. Wenn es schwierig wird, kriecht er regelmäßig bei seiner Mutter unter, er trinkt und er trägt finanziell nichts zum Haushalt bei. Christiane hat ihr erstes Kind mit sechzehn Jahren bekommen, war mehrmals in der Psychiatrie, hat Suizidversuche hinter sich und scheint sich erst durch die Mutterschaft selbst zu spüren. Sie hat keinen Schulabschluss, kann aber ihr Familienleben gut strukturieren und sorgt sogar dafür, dass ihre große Familie Auslandsurlaube machen kann. Das Jugendamt hat Christianes Familiensituation im Blick, hat aber nichts zu beanstanden, außer polizeiliche Einsätze wegen Aussetzern von Tobias.
Prune Antoine legt ihr Buch als „Narrative Non-Fiction“ an, indem sie sich vor allem fiktiv in Christianes Leben im Präsenz hineinversetzt. Zwar rücken die Lesenden so nah an sie heran und können sie als Person aber einfach nicht fassen, zu groß sind die Widersprüche. Ist sie eine notorische Lügnerin, verdrängt sie eine Vergewaltigung als Zwölfjährige, ein Trauma, dass wohl nie stattgefunden hat? Hat ihr eigener Vater, den sie hasst, ihr etwas angetan? Lieblos war ihre Kindheit in einer bürgerlich wohlgeordneten Umgebung. Überraschend die Verurteilung des Vaters wegen Besitzes von Kinderpornographie. Betrachtet man ihr Leben, dann fällt auf, dass sie sich außerhalb der Familie mit niemandem austauscht. Eng gebunden an die Kinder als perfekte Mutter ( sie raucht nicht, sie trinkt nicht, nimmt keine Drogen, hat keine Liebschaften, ist nicht depressiv ) hat sie sich selbst verloren. Gibt sie vor, ihren Ex-Mann nicht mehr zu lieben, so bedrängt sie ihn in ihren letzten WhatsApps zu ihre zurückzukehren und droht ihm. Hat die Pandemie, die gerade an Familien nicht spurlos vorbeigegangen ist, bei Christiane K. eine dissoziative Störung ausgelöst, auch wenn sie sagt, sie hätte nie Probleme mit den doch einengenden Maßnahmen gehabt? Ein Gutachten nach dem anderen wurde erstellt und doch ist das Gerichtsurteil für die junge Frau verheerend. Im Prozess wurde sie wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Ziehen sich die Überlegungen über Christiane K.’s Leben durch die eng gedruckten Seiten, so wandern die Gedanken der Autorin auch zu persönlichen Einschätzungen über ihr eigenes Leben mit ihrer Tochter, die bald vier Jahre alt sein wird. Und sie schreibt über die Lage der Frauen, wenn sie abtreiben wollen oder durch Gerichtsbarkeiten wie auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht gleichberechtigt beurteilt werden.
Keine leichte Lektüre!