Katrine Engberg: Aschezeichen – Die Wunden der Schuld, Aus dem Dänischen von Hanne Hammer, Piper Verlag, München 2024, 432 Seiten, €18,00, 978-3-492-06512-2

„Ein schlafender Mann in einem Zelt auf einer einsamen Insel, auf der es sonst nur Zugvögel und einen Naturpfleger gab, die Kinder im Zelt gleich nebenan. Ein mysteriöses Video mit einem Namen in einer fremden Sprache. Es erforderte sowohl Kraft als auch Kaltblütigkeit, einem erwachsenen Mann die Kehle durchzuschneiden, diese Mordmethode wurde in der Regel von Profis angewandt, die ein Exempel statuieren wollten. Von Banden und Auftragskillern.“

Der Iraner Tami Ansari wird mit achtundvierzig Jahren auf der jütländischen Insel Vorsø im Schlaf getötet. Normalerweise darf niemand auf dieser geschützten Insel, zu der keine Brücke führt, zelten oder gar grillen. Shirin, die vierzehnjährige Tochter von Tami, findet den Vater und flieht nach einer Drohung des Täters, den sie nicht sehen konnte. Ebenfalls verschwindet Tamis siebzehnjähriger Sohn Cyrus.
Im Rückblick erzählt Katrine Engberg vom Aufenthalt des fünfzehnjährigen Tami, der in Dänemark 1990 als Minderjähriger ohne Familie im Erstaufnahmelager Sandholm ankam. Sein Vater wurde als Journalist im Iran verfolgt und getötet, die Mutter wollte eigentlich ebenfalls das Land verlassen. Der ruhige Tami lernt im Lager mehrere ältere Iraner kennen, freundet sich aber mit Milad Kharazmi an. Seinen Namen findet die Polizei auf einem Zettel neben der Leiche und ein Video, dass offenbar zur Tatzeit nebenher aufgenommen wurde. Tami Ansaris Frau Yasmin konnte in Dänemark nie heimisch werden und ist, ohne den Kontakt zu den Kindern aufrechtzuerhalten, in den Iran zurückgegangen.
Es ist ein wirklich sehr unwahrscheinlicher Zufall, dass ausgerechnet Nima Ansari, der Automechaniker und Bekannte der Privatdetektivin Liv Jensen, ein enger Verwandter des Opfers ist. Da der Ermittler Petter Bohm dies ahnt, bittet er Liv, die ja immer noch auf eine Festanstellung in der Abteilung für Gewaltkriminalität hofft, um Hilfe bei der polizeilichen Arbeit. Mit zu viel Eifer stürzt sich Liv, die kaum Geld für ihre Miete hat, dann auch auf diesen Fall und befragt nicht nur Nima, der inzwischen seine Nichte Shirin gefunden hat, sondern auch den Naturhelfer Lars Rørdam, der früher mit Tami in einem Haus gewohnt hat, und einige Weggefährten von Tami aus dem Erstaufnahmelager und Kumpels in der Stammkneipe. Schnell wird deutlich, dass Tami all seine Träume vor über dreißig Jahren nicht verwirklichen konnte. Durch seine jahrelange Arbeitslosigkeit ist er offenbar zum Säufer und Schläger geworden, der allerdings, und das ist auffällig, genug Geld für ein neues Auto und eine teure Angelausrüstung hat. Oder stammte dieses Geld von Cyrus Drogengeschäften, die er offenbar für eine Bande tätigte? Nima macht sich nun Vorwürfe, dass er seinen Kontakt zu den Verwandten abgebrochen hatte. Doch Tamis Lebenswandel ärgerte ihn zunehmend.
Doch warum glaubt Liv, dass der Tod Tamis mit dem Erstaufnahmelager und den Iranern, die alle Asyl erhalten haben, zu tun haben könnte? Wo ist Milad Kharazmi und vor allem, warum wollte Yasmin keinen Kontakt zu ihren Kindern? Und warum musste Tami sterben?
Ermittlungen sozusagen von der Seitenlinie aus verfolgen die Lesenden bei der Arbeit von Liv, die sich immer wieder mit dem verantwortlichen Polizisten Pepper Bohm, der zum Ende hin eine erschreckende ärztliche Diagnose bekommen wird, abstimmt.
Vom Scheitern der Migration, zunehmender Verrohung, Gewalt gegen Frauen und kriminellen Schläfern, die eindeutig auf der Seite der islamischen Republik bis heute stehen und nicht nur einem Mord erzählt Katrine Engberg. Die dänische Autorin lässt die Lesenden aus den Blickwinkeln von Liv Jensen und Nima Ansari das spannende Geschehen verfolgen und berichtet vom bedrückenden Aufenthalt der Asylsuchenden in Aufnahmelagern. Dass der Staat in vielerlei Hinsicht nicht nur in Dänemark bei der Aufnahme der Menschen, trotz elend langer Wartezeiten und Prüfungen, versagt, schwingt als Kritik in der Handlung mit. Liv Jensen jedenfalls trägt durch ihre Recherchen und Befragungen dazu bei, dass aufgedeckt wird, dass einige iranischen Männer aus dem Lager, die nun scheinbar in der dänischen Gesellschaft integriert sind und sogar einer iranischen Vereinigung vorstehen, einst im Iran und sogar in Dänemark zu den Folterern gehörten und ebenfalls einen Mord zu verantworten haben.
Katrine Engberg überzeugt auch mit ihrem zweiten Band über das Leben und Arbeiten der ambivalenten Privatdetektivin Liv Jensen. Freuen wir uns auf Band drei!