Margarethe Adler: Die Stunde der Mauersegler, C.Bertelsmann Verlag, München 2024, 352 Seiten, €22,00, 978-3-570-10552-8

„ Für Lou ist es offensichtlich: Im Fall der Familie Simon-Hauschke-Fuchs haben die Alten allesamt nicht gelernt zu reden. Zumindest nicht über sich, nicht miteinander, und erst recht nicht über die wirklich bedeutsamen Dinge. Sie wagen es ja offensichtlich nicht einmal, in sich selbst hineinzuhören.“

Bei der Familie Simon-Hauschke-Fuchs ist weit nach der Wende im Jahr 2015 so einiges in die Schieflage geraten. Wie aus dem Nichts taucht bei der Feier zum fünfundachtzigsten Geburtstag von Uropa Konrad der Bruder seiner Frau Elisabeth auf und behauptet, dass sie angeblich von den Plänen gewusst hätte, dass die Mauer 1961 die beiden deutschen Staaten teilen würde. Der verbitterte Henning Fuchs ist aus Rheinland-Pfalz angereist, wo er seit seiner Flucht lebt. Eine absurde Behauptung oder doch nicht? Immerhin hat Elisabeth im Magistrat, also im Roten Rathaus in Ostberlin, gearbeitet.
Henning Fuchs hingegen hatte kurz vorm Mauerbau seine große Liebe, die allerdings im Westteil der Stadt wohnte, kennengelernt. Als er 1962 spektakulär aus der DDR geflohen ist, war klar, dass seine Schwester, natürlich Mitglied der SED, die erste Person sein wird, die sich die Staatssicherheit vornehmen wird. Als dann auch noch die Tochter von Elisabeth 1988 durch einen Ausreiseantrag mit Familie die DDR verlässt, wird Elisabeth erst recht in Sippenhaft, was es natürlich offiziell nie gegeben hat, genommen. Jeder, der in der DDR gelebt hat, weiß, dass sie nun im Magistrat eher die staubigen Akten im Keller sortieren musste, als in irgendeiner wichtigen Position weiterhin zu arbeiten konnte. Elisabeths Traum vom Sozialismus, was sie selbst nicht wahrhaben will, ist bereits gestorben, als ihr Bruder verständlicherweise seiner Liebe gefolgt ist. Doch Familiengeheimnisse lassen sich lang aufrechterhalten, so lange niemand mal wirklich nachfragt. Urenkelin Lou, die nun in einer WG in Kreuzberg wohnt, will es wissen und beginnt damit, die Urgroßeltern, zu denen sie bisher ein gutes Verhältnis hatte, peinlich zu befragen. Sie stößt auf vehemente Ablehnung. Auch Lous Mutter Anke ist kaum auskunftsfähig, denn sie hadert eher mit ihren Eltern, Isa und Hannes, die durch ihre Ausreise aus der DDR, der Tochter, die damals dreizehn Jahre alt war, den Boden unter den Füßen weggerissen. Welchen Repressalien Familien ausgesetzt waren, die die DDR legal verlassen wollten, wird in dieser Familiengeschichte sehr eindringlich geschildert. Den sogenannten Zurückdrängungsgesprächen mit Stasi-Leuten ausgesetzt, litten diese Familien, einschließlich der Kinder, unter Mobbing, Überwachung bis in den privaten Bereich hinein und vor allem unter von der Stasi verbreiteten Lügen, um diese Familien gesellschaftlich zu diskreditieren. Doch wie lebt nun eine einst zerrissene Familie nach dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung mit all ihren Verletzungen und Geheimnissen. Elisabeth und ihr Mann Konrad klammern sich auch im Alter an ihrem sinnlosen DDR-Traum fest, Isa und Hannes verleugnen, dass sie sich nie gefragt haben, wie ihre Kinder Anke und Christian diese Ausreise aus der DDR verkraftet haben und wie ihre eigenen Eltern in ihrem beruflichen Umfeld damit klarkommen würden.
Margarethe Adlers Familienroman zieht sich zeitlich von den 1960er Jahren bis ins Jahr 2015. Erzählt wird aus der personalen Sicht der Frauenfiguren: Elisabeth, Isa, Anke und Lou. Mal in Gedankenströmen, dann wieder als Tagebuchaufzeichnungen von Anke erleben die Lesenden mit, wie sich durch die Konflikte in der Familie Simon-Hauschke-Fuchs die deutsch-deutsche Geschichte zieht. Gut recherchiert, einigen Personen legt die Autorin auch geschichtliche Fakten und historische Erläuterungen in den Mund, verdeutlicht Margarethe Adler, wie die Diktatur Menschen ins gesellschaftliche Aus gezwungen hat.
Richtig glücklich waren Lous Urgroßeltern wahrscheinlich nur auf ihrer Datsche in Bestensee. All diese schizophren gelebten Biografien in der DDR müssen Auswirkungen gehabt haben. Das Schweigen und auch Totschweigen von engsten Familienmitgliedern war sicher eine Art des Umgangs miteinander. Als Lou dann die Stasi-Akten der Urgroßeltern über einen persönlichen Kontakt einsehen kann, müssen die Familienmitglieder sich endlich all ihren verdrängten Geheimnissen und auch Lügen stellen.