Julia von Kessel: Die anderen sind das weite Meer, Eisele Verlag, Berlin 2024, 336 Seiten, €23,00,
978-3-9616-1197-3
„Hans betrachtet das Bild nachdenklich. Süße Kinder, was war nur aus ihnen geworden? Alle drei waren sie nicht im Erwachsenenleben angekommen. Luka in ihrer Kinderlosigkeit, getrieben von ihrer Arbeit, immer unter Druck, Tom war so oberflächlich mit den schicken Anzügen, seinem Faible für alte Autos. Und Elena! Seine Jüngste war die Schlimmste. So sprunghaft, nichts konnte sie zu Ende führen, kein Studium, keine Ausbildung war gut genug für sie, keine Beziehung mündete in einer Ehe oder irgendetwas Vorzeigbarem. Jetzt hatte sie ein Kind, aber kaum Geld, um es zu versorgen, und wer war eigentlich der Vater dazu?“
Sie sind eine dysfunktionale Familie, die Cramers. Wenn Vater Hans an seine Kinder denkt, dann sitzt der fast Achtzigjährige in seinem Bonner Bungalow und weiß manchmal nicht, in welchem Jahr er eigentlich lebt. Seine exotische Frau Maria ist an Krebs verstorben und gepflegt hat sie am Ende eigentlich nur ihr Sohn Tom. Hans hat sich in der Arbeit als pflichtschuldiger Diplomat vergraben, um sich nicht den traurigen Tatsachen stellen zu müssen. Tom leitet in Berlin eine psychiatrische Klinik in Wannsee und lebt als schwuler Mann. Seine Sehnsucht vom Vater anerkannt zu werden und nicht als „Systemfehler“ zu gelten, begleitet den nun über Vierzigjährigen bis zum heutigen Tag. Keine noch so ausgefallene Zeremonie mit seltsamen Pflanzen wird dazu führen, dass ihn dieses Gefühl je verlässt. Dabei hadert der eigene Vater ebenso mit seinem starrköpfigen Vater, der kaum Verständnis für seine Entscheidungen und sein Leben aufbringen konnte. Der Liebling von Hans war schon immer seine älteste Tochter Luka. Sie arbeitet bei einem Fernsehsender als Investigativjournalistin und liefert mit ihrem Kameramann und mit der Hilfe ihres Dolmetschers Livekommentare und Reportagen aus der Ukraine. Erschreckend wie oberflächlich die Gespräche mit ihren Chefs sind, die sich bei den zurückgehenden Einschaltquote eher darum sorgen, dass Luka mit ihrem Aussehen nicht gerade gut ankommt und sie unbedingt vor anderen Fernsehteams an den Kriegsschauplätzen eintreffen muss. Diese Szenen und Telefonate gehören wohl zu den bittersten in Julie von Kessels fiktiver Handlung.
Elena ist die Jüngste der Geschwister, die in Bonn geblieben ist und mit ihrem Galeriejob als Assistentin, die den Kaffee bringt, kaum Geld verdient. Auch ihr Mann Juan kann als Musiker finanziell wenig beitragen.
Ob Luka, Tom oder Elena, jedes Kind fühlt sich nicht für den besorgniserregenden Gesundheitsstand des Vaters verantwortlich. Wenn die Anrufe der angeblich nur neugierigen Nachbarin eintreffen, werden sie als nervend abgetan. Jeder schiebt dem anderen die Aufgabe zu, sich zu kümmern. Natürlich ist es schwierig mit einem Vater klarzukommen, dessen moralische Maßstäbe sich daran messen, dass die Töchter und der Sohn in ihrem Altern nun eigentlich eine intakte Familie mit Kindern gegründet haben müssten, ein Eigenheim gebaut haben sollten und als Festangestellte bald auf eine gute Rente hoffen dürfen. Doch die Welt ist einfach nicht mehr so einfach gestrickt. Allerdings kann man mit einem dementen Menschen auch nicht mehr diskutieren. Der Einzige, der das versteht, ist Tom, aber er ist eher mit seinem Traummann beschäftigt, der sich nicht für ihn interessiert. Elena, die schwer krank ist, das aber irgendwie ignoriert, weint ihrer ersten Jugendliebe hinterher und Luka wird in der Ukraine einen eklatanten Fehler machen, der den Tod eines Menschen zur Folgen haben wird.
Julie von Kessels Roman erzählt von der Generation der Kinder, die keine Verantwortung mehr übernimmt, sich im eigenen Mitleid suhlt und über verpasste Chancen jammert. Alles dreht sich um ihr eigenes Ego. Sie nehmen keine Rücksicht auf die Elterngeneration, die sicher Fehler gemacht hat, aber nun Unterstützung und Zuwendung benötigt. Doch wohin mit den Alten, die immer älter und immer dementer werden?