Jean Hanff Korelitz: Die Nachzüglerin, Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Lohmann, Blessing Verlag, München 2024, 496 Seiten, €24,00, 978-3-89667-765-5
„Endlich, endlich blitzte ein Funke Realität durch das Kraftfeld ihrer störrischen Selbsttäuschung und bescherte ihr den ersten Anflug von Erkenntnis: dass sie zwei Erwachsene plus drei gleichzeitig entstandene Kinder waren. Fünf Menschen unter einem Dach. Aber keine Familie.“
Johanna Hirsch glaubte all ihre Liebe einem Menschen schenken zu müssen, der als junger Mann schwere Schuld auf sich geladen hatte. Salo Oppenheimer hatte, als er 1972 am Steuer seines Wagens saß, zwei Menschen in den Tod geschickt. Es war ein Unfall, sicher, und doch gab niemand ihm nur eine Sekunde die Schuld am Tod seiner Freundin und seines Freundes. Schnell und fast übergangslos ging Salo zurück an die Universität und sorgte sich nicht mal um die vierte Person, die in seinem Auto ebenfalls verletzt wurde. Aus der Sicht eines Wir-Erzählers, der linear und in zeitlichen Sprüngen im Namen auch von anderen spricht, lernen die Lesenden die jüdische, wohlhabende New Yorker Bankerfamilie Oppenheimer, deren Urahn einst der legendäre Jud Süß war, kennen. Dieses Erzähler – Wir bezeichnet den Vater als Heuchler und klar ist auch, dass Salo keine Lebensfreude empfindet. Innere Ruhe empfindet er nur, wenn er sich seiner Kunstsammlung widmet, zu der u.a. auch ein frühes Werk von Twombly, das im Wert enorm steigen wird, gehört. Aber Geld spielt für den eher schweigsamen, sich immer mehr zurückziehenden Salo eigentlich keine Rolle. Er kauft Kunst von modernen Malern, die ihm gefällt. Seine Frau Johanna nimmt an dieser Leidenschaft kaum Anteil. Sie sehnt sich nach Kindern, die im großen Haus in Brooklyn, wieder eine gute Investition, spielen. Und dann sind sie nach vielen Praxisterminen da: die Drillinge Harrison, Lewyn und Sally. Drei gesunde Kinder aus der Petrischale feiern ihren Geburtstag mit entsprechendem Foto jedes Jahr im September im Sommerhaus der Familie auf Martha’s Vineyard. Allerdings stellt sich bereits sehr früh heraus, dass die Drillinge nichts gemeinsam haben, sie spielen nicht zusammen und sie mögen sich nicht. Mit Hingabe aber umsonst versucht Johanna, die Kinder zu gemeinsamen Aktivitäten zu bewegen. Als die Jugendlichen das Elternhaus verlassen, gehen Sally und der ebenfalls der Kunst zugewandte Lewyn an die gleiche Universität in Ithaka. Allerdings vermeiden sie jeglichen Kontakt und niemand ahnt, dass diese beiden aus einer Familie stammen. Als ihre bodenständige wie ehrliche Zimmernachbarin Rochelle Steiner, in die Sally doch ein bisschen verliebt ist, dann eine Liebesbeziehung mit Lewyn beginnt, sinnt Sally auf Rache. Als Teenagerin sehr zickig, ist sie die einzige, die bemerkt hat, dass ihr Vater sich für eine andere Frau interessiert. Die Afroamerikanerin Stella Western ist Dokumentarfilmerin und war die vierte Person im damaligen Unfallwagen. Sehr langsam wendet sich Salo dieser Frau zu und wird nochmals Vater. Der ehrgeizige, extrem kluge wie zynische Harrison, ebenfalls ein Heuchler, hat sich von der Familie abgesondert. Er wird sich politisch völlig der rechten Seite zuwenden. Johanna ist nun siebenundvierzig Jahre alt und sie erinnert sich an die vierte Eizelle in der Petrischale und sie beschließt, ein weiteres Kind, diesmal von einer Leihmutter, austragen zu lassen. Für die Drillinge ist dieses Baby ein Fremdkörper, zu dem sie keinerlei Kontakt wünschen. Als es zur üblichen Geburtstagsfeier am 10.09.2001, der sich kein Kind der Oppenheimer entziehen kann, zu einem Eklat kommt, scheint die dysfunktionale Familie völlig auseinanderzubrechen. Doch niemand hat mit dem vierten Kind, dass groß werden wird und nach und nach alles verstehen, gerechnet. Phoebe wird zwar ihren Vater, der am 11. September 2001 in einem der Flugzeuge sitzen wird, das in das World Trade Center rast, nie kennenlernen, aber sie wird siebzehn Jahre später vieles heilen, was in dieser auch unfreiwilligen Patchwork – Familie aus vielerlei Gründen tragisch aufgebrochen ist.
Um Phoebes Sicht zu verstehen, wechselt Jean Hanff Korelitz zur Ich-Perspektive im letzten Teil des Seiten starken Familienromans. Im Schnelldurchlauf handelt die Autorin die Kinderzeit der Drillinge ab, um sich dann ausführlichst ihren Jahren auf den Universitäten zu widmen. Hier sind sie auf sich gestellt, hier machen sie ihre eigenen Erfahrungen, suchen nach dem Glück, finden sich und verleugnen gleichzeitig ihre Herkunft, von der sie doch profitieren. Erst die Konfrontation mit der Frieden stiftenden Phoebe, die sie immer ausgegrenzt haben, lässt alle innehalten.
Tragik, Schuld und die Unfähigkeit zu lieben in einer Familie, die alles hat, Geld und den Zugang zu Bildung – davon erzählt die amerikanische Autorin wortstark, ausufernd, opulent und versöhnlich.