Donna Leon: Reiches Erbe – Commissario Brunettis zwanzigster Fall, Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Diogenes Verlag, Zürich 2012, 320 Seiten, €22,90, 978-3-257-06820-7
„Schande über den Tod, dass er sich am Fenster unseres Lebens zeigt; Schande über den Tod, der uns daran erinnert hat, dass er draußen auf uns lauert.“
Einen neuen Donna Leon – Krimi öffnen und lesen ist wie die Begegnung mit alten vertrauten Bekannten, die man eigentlich gar nicht so genau kennt. Da ist zum einen die Stadt Venedig mit ihrem morbiden Charme, den kurzen Wegen, den engen Gassen, den prunkvollen Palazzi und dem Canale Grande, zum anderen der mitfühlende Commissario Guido Brunetti, der gutmütige Ispectore Vianello, der leicht aufgeblasene Vice-Questore Giuseppe Patta, der unsympathische Tentente Scarpa, die listige Sekretärin Signora Elettra und Brunettis kluge Frau Paola. Die amerikanische Autorin Donna Leon, die wie keine andere ihre Wahlheimat zum Ort des Verbrechens erkoren hat, benötigt wenig Personal, um Spannung zu erzeugen. Wie immer plänkeln ihre Figuren gern über die Unfähigkeiten der Politiker und Verantwortlichen der Stadt und wie so oft spielen Betrug, illegale Machenschaften, Korruption und moralische Verkommenheit auch in diesem zwanzigsten Fall eine Hauptrolle. Brunetti muss allerdings auch feststellen, dass er bei seinen Ermittlungen ohne Elettras nicht ganz legale Handlungen im Netz nie zum Ziel kommen würde. Doch was wäre ein Leben in Venedig ohne diese kleinen Verfehlungen und Amtsmissbräuche.
Constanza Altavilla, eine in Pension gegangene Lehrerin, Mitte 60, wird tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Jeder, der über sie spricht, bezeichnet sie als guten Menschen und Brunetti will das auch gern glauben. Allerdings zweifelt er beim Anblick der Leiche, dass sie, wie der vorsichtige Pathologe Rizzardi herausgefunden hat, an plötzlichem Herzversagen gestorben ist. Ihr Sohn scheint über dieses Obduktionsergebnis sehr erleichtert zu sein, was Brunettis Argwohn weckt. Rizzardi deutet jedoch noch an, dass das Opfer möglicherweise geschüttelt oder auch heftig gestoßen wurde und dadurch zu Tode kam.
Wie gern Brunettis Vorgesetzter Patta diesen Fall zu den Akten legen würde, ist dem Commissario schnell klar. Allerdings ist Patta immer wieder für eine Überraschung gut. Er ordnet eine gründliche Untersuchung an, denn der Sohn von Constanza Altavilla ist Tierarzt und hatte sich vor einiger Zeit mit viel Einsatz um den Husky seines Sohnes gekümmert. Und so beginnt Brunetti, in aller Ruhe im herbstlichen Venedig zu ermitteln. Nach und nach stellt sich heraus, dass die so verschlossene Constanza Altavilla wirklich zu den guten Menschen zählte, denn sie hat sich in ihrer Freizeit in einem Altenheim um mehrere Leute gekümmert. Sie hat ihnen zugehört und konnte schweigen, denn nichts, so resümiert Brunetti ist für die Alten so wichtig, als über sich und die Zeiten zu reden, in denen die Welt noch anders aussah. Unter diesen alten Menschen befindet sich auch Signora Satori. Als Brunetti mit der leicht verwirrten Frau ins Gespräch kommt, stürmt ihr Lebensgefährte ins Zimmer und unterbindet jegliche Auskünfte. Was haben die beiden zu verbergen?
Aber Signora Altavilla hat sich nicht nur um alte Menschen gekümmert. Ihre Wohnung diente auch als Zufluchtsort für Frauen, die von ihren Männern misshandelt wurden. Brunetti setzt sich mit der Leiterin der Organisation „Alba Libera“ in Verbindung und muss feststellen, dass es auch unter den gequälten Frauen schwarze Schafe gibt.
Ganz nebenbei fließen wieder viele Infos ein, die unsere alten Bekannten so sympathisch werden lassen. So hält Brunetti immer noch gern eine richtige Zeitung in Händen hält und hat so gar keine Lust online zu lesen. Er erinnert sich an frühe Familienszenen, in denen gerade sein Sohn Raffi sich so gar nicht am Tisch benehmen konnte. Jetzt ist er froh, wenn seine Kinder überhaupt mal zum Essen da sind und alle Familienmitglieder in gemütlicher und beruhigender Runde zusammen sind. Wann hat er Paola zum letzten Mal Blumen mitgebracht und was bedeutet es wirklich, jemanden über alles zu lieben?
Und Brunetti erkennt, auch der schönste Reichtum führt nicht zwangsläufig dazu, dass man glücklich bis ans Ende seiner Tage leben kann.
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