Maggie O’Farrell: Hier muss es sein, Aus dem Englischen von Kathrin Razum, Piper Verlag, München 2024, 544 Seiten, €24,00, 978-3-492-05870-4
„Ich habe zweimal den Atlantik überquert, habe meine mir entfremdeten Kinder getroffen, habe einem Mann gegenüber gesessen, den ich ein halbes Leben lang nicht mehr gesehen habe, Informationen aufgenommen, mit denen ich noch nichts Klares anzufangen weiß, mein Herz ist gebeutelt und erschöpft, aber ich bin daheim, ich bin wieder da.“
Daniel Sullivan, Vater, Linguist und Amerikaner, ist der Ich – Erzähler dieser Familiengeschichte, die sich über einen langen Zeitraum erstreckt. Er ist die Figur im Mittelpunkt, um die herum von den akribisch genau beschriebenen Geschehnissen in den USA, Irland, Indien, China und Frankreich, Großbritannien allerdings multiperspektivisch, in Rückblenden und zeitlich nicht chronologisch berichtet wird.
Alles beginnt 2010 in Donegal, Irland. Eine hysterische Frau zielt mit dem Gewehr auf einen harmlosen Fotografen. Es ist Claudette Wells, Daniels zweite Frau, die sich als „Weltflüchterin“ mit ihrem Sohn Ari einst in der Einsamkeit Irlands verkrochen hatte, als Daniel sie kennenlernt. Auch ihn, der auf den Spuren seiner Vorfahren Irland besuchte, auch um die Urne seines Großvaters abzuholen, hat sie damals skeptisch, geradezu feindlich betrachtet. Er hatte gleich das Gefühl, dass diese temperamentvolle, leicht exaltierte Frau ihm irgendwie bekannt vorkam. In Paris geboren wurde Claudette vom schwedischen Regisseur Timou Lindstrom in London entdeckt und gelangte als Schauspielerin zu Weltruhm. Mit einem Oskar geehrt findet Claudette jedoch in ihrer Ehe mit Lindstrom keine Erfüllung. Als Künstlerin hat sie den Ruf, schwierig und kompromisslos zu sein. Während wichtiger Dreharbeiten verschwindet sie einfach mit ihrem Sohn Ari vom Set und sorgt dafür, dass niemand sie finden kann.
2010 begibt sich Daniel, seine Schwestern haben ihn bekniet, zur Geburtstagsparty für seinen 90-jährigen, nicht geliebten Vater nach Brooklyn. Doch zum Ärger seiner Frau, die ihn nicht erreichen kann, reist er ans Ende der USA, um endlich Kontakt zu seinen nun erwachsenen Kindern aufzunehmen. Daniels erste Frau hat ihn nach der Scheidung konsequent mit allen möglichen Ausreden von Niall und Phoebe entfremdet. Nach diesem Treffen wird ein allwissender Erzähler in die Zukunft schauen und mitteilen, dass Phoebe früh durch einen Unfall sterben wird.
Doch was wäre wie geschehen, wenn sich die handelnden Figuren anders entschieden hätten?
So plagt Daniel seit langem sein Verhalten in der Zeit als er in England Doktorand war. Sexuelle Abenteuer spielten für ihn immer eine wichtige Rolle. An der Universität hatte er dann die umschwärmte Autorin Nicola Janks kennengelernt, sich in sie verliebt und nach einer Abtreibung verlassen. Er wird 2010 seinen ehemaligen Mitbewohner Todd Denham, geplagt von Schuldgefühlen, treffen und erfahren, wie Nicola wirklich gestorben ist.
In Rückblenden lässt Maggie O’Farrell Daniel nicht nur an seine Frauen, Ehen und Erlebnisse mit seinen Kindern denken, sie setzt die Lesenden auch in Kenntnis über die Ehe von Daniels Eltern. So traf Daniels Mutter, Teresa, 1944 einen jungen Mann namens Johnny Demarco. Beide verliebten sich auf den ersten Blick und doch hat Teresa ihren Verlobten Paul Sallivan geheiratet. Bis zu ihrem Tod wird sie mit Johnny Demarco verbunden sein. Das Verschweigen der Geliebten kann Daniels Frau ihm nicht verzeihen und so verschwindet sie erneut und er versinkt im Alkoholismus.
Immer im Bereich des Privaten verbleibend schauen die Lesenden in einem weit gespannten dramatischen Bogen von den USA bis Europa in die unterschiedlichen Lebenswege der Sullivans, ihrer Kinder, Schwestern und Brüder.
Maggie O’Farrell ist die Meisterin der poetisch sanften multiperspektivisch aufgefächerten Zeitdiagnose und sie schreibt atmosphärisch genaue Szenen, die im Gedächtnis bleiben. Sie versteht es, ihre Figuren als nuancierte Charaktere zu zeigen, die widersprüchlich und so lebendig wirken. Durch verschiedene Zwischentöne und unauffällige Verzahnungen und Anspielungen fügt sie alle Puzzleteile zusammen und schafft es mit Leichtigkeit, ihr Lesepublikum bis zur letzten Seite zu unterhalten.