Vignis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2023, 400 Seiten, €24,00, 978-3-10- 397512-3
„Vater ist gestorben, und ich hatte gedacht, Mutter sei in mir gestorben, warum will ich sie zum Leben erwecken, ist es das, was ich versuche zu tun? Immer wenn ich glücklich sein wollte, muss ich Mutter und Vater vergessen.“
Johanna als Ich – Erzählerin nimmt die Lesenden auf eine Reise mit, die mehr als schmerzlich ist. Vor dreißig Jahren hat sie sich entgegen dem Willen ihrer Eltern von allem verabschiedet, von ihrem Ehemann Thorleif, von ihrer beruflichen Karriere als Juristin und von ihrem Elternhaus. Sie wollte frei als Künstlerin leben und so ist sie mit ihrem neuen Mann Mark weit fort von Oslo nach Utah geflohen und hat dort erfolgreich als Malerin ein neues Leben begonnen. Dreißig Jahre lief der spärliche Kontakt zum Elternhaus über die Schwester Ruth. Nie haben Vater oder Mutter ihren Enkelsohn John gesehen, nie haben sie auf die Briefe der Tochter reagiert. Als Johanna ihre Bilder in Oslo zeigen durfte, haben sich die Eltern von ihrer Kunst „bloßgestellt“ gefühlt. Alle zeichnerischen Ambitionen, die Johanna als Kind oder Jugendliche gezeigt hat, hat der Vater als nichtig veralbert. Die Mutter hat nie einen eigenen Gedanken geäußert, sich an praktischen Kalendersprüchen entlanggehangelt und im Schatten des Vaters, der als Rechtsanwalt gearbeitet hat,
verkrochen. Doch nun ist Johannas Mann Mark verstorben, der Sohn beginnt als Bratschist seinen eigenen Lebensweg und Johanna ist wieder nach Oslo gezogen. Doch die künstlerische Arbeit will nicht gelingen. Sie will wieder eine Verbindung zu ihrer Familie finden. Da sie aber weder in der Krankheitsphase des Vaters in die Heimat zurückgekehrt ist, noch zur Beerdigung, ist sie für Mutter und Schwester gestorben. Doch warum will diese eigenständige, kluge und feinsinnige Frau nun unbedingt ein Gespräch mit ihrer durchschnittlichen Mutter führen? Was haben sich beide zu sagen?
Welche Fragen sind zu klären? Das völlige Desinteresse am Schicksal der eigenen Tochter kann Johanna nicht akzeptieren.
„Ich finde mich mit dem Mutterverlust ab, aber ich finde mich nicht damit ab, dass Mutter sich mit dem Tochterverlust abgefunden hat?“
In den Erinnerungen an die Kindheit spiegelt Johanna immer wieder ihre Außenseiterrolle und das Fremde in der Familie. Sie kann sich nicht mal an den Geburtstag der Mutter, geschweige denn ihr Alter erinnern. Das einzig gemeinsame mit der Mutter ist die rote Haarpracht. Aus Angst vor eine Begegnung sucht Johanna die Kunstmuseen der Stadt auf, die die Mutter sowieso nie besucht.
In ein Waldgrundstück am Fjord zieht sich Johanna zurück, um hier im Einklang mit der Natur Energie zu tanken und auch den Schmerz über die ablehnende Haltung der Mutter zu verkraften.
Wie eine Stalkerin bezieht die Tochter den Posten vor dem Haus der Mutter. Beobachtet sie, begleitet sie auf ihren Wegen, sieht sie und die Schwester nach drei Jahrzehnten. Die sinnenfeindliche Mutter als „Stein im Schuh“, als diejenige, die das Kind nie beschützt hat und immer nur Respekt einforderte, hat nie Johanna gesehen, so wie sie war. Sie hat nicht gesehen, dass die pubertierende Tochter gehungert hat, um zu überleben. Nie sollte unnütz Geld ausgegeben werden, auch nicht für bunte Stifte. Eine Mutter, die immer nur vom Kind enttäuscht ist, kann nicht zur Liebe gezwungen werden. Doch was ist im Leben der Mutter selbst abgelaufen, warum hat sie für den Vater alles „geglättet“, wo ist sie mit ihren Wünschen und Erwartungen in der Ehe gelandet?
Warum hat der Vater ihr Flugticket in die USA zerrissen? Warum hat sie nie kurzärmlige Sachen getragen? Was gab es zu verbergen? Immer aggressiver geht Johanna vor, um endlich Antworten zu bekommen. Etwas zäh liest sich, wie eine tief verletzte Sechzigjährige sich einen furiosen Kampf mit einer eisern schweigenden Achtzigjährigen liefert.
Mit wenig Erfolg wurden die Romane von Vigdis Hjörth in Deutschland veröffentlicht, gilt doch die Autorin in Norwegen als eine der bedeutendsten Gegenwartsschriftstellerinnen. Zumal auch sie, wie ihr Landsmann Karl Ove Knausgard, den Schwerpunkt auf Authentizität und die auch umstrittene Selbstentblößung legt.