Fabian Neidhardt: Nur ein paar Nächte, Haymon Verlag, Wien 2023, 247 Seiten, €22.90, 978-3-7099-8174-0
„Früher stand Ben auch neben ihm in der Küche, aber irgendwann war sein Sohn zu genervt gewesen, dass er es Emil nicht hatte recht machen können. Seitdem will er nicht mehr mit seinem Vater kochen. Vielleicht hat Emil diese Jahrzehnte gebraucht, um selbst loslassen zu können. Kann Ben das nicht sehen? Dass er es jetzt mit Mia besser macht?“
Ben Berger, Mitte Dreißig und alleinerziehender Vater einer Tochter, arbeitet als Holzschnitzer auf seinem eigenen Hof. Übernommen hat er das Haus von seinen Eltern, die in die Stadt gezogen sind. Doch nun steht plötzlich sein Vater Emil, zu dem er nicht das innigste Verhältnis hat, vor der Tür und bittet für ein paar Nächte um Aufnahme. Für Ben war immer seine Mutter Milena die vertraute Person in der Familie und seine ältere Schwester Salome. Sein Vater, der als Bankangestellter arbeitete und für die Familie den Traum vom eigenen Restaurant aufgeben musste, war zwar immer da, aber nie wirklich anwesend. Sich am Vater abarbeiten und durch seine Anwesenheit, wieder in die Kinderrolle gedrängt zu werden, dazu hat Ben eigentlich gar keine Zeit, denn er muss sich um seine Tochter kümmern und will doch alles ganz anders machen als sein Vater. Und nun will Tochter Mia auch noch ihre Mutter kennenlernen, von der Ben kaum je erzählt hat. Vor gut zwölf Jahren stand Ben mit Baby Mia ebenfalls in einer Notsituation bei seinen Eltern vor dem Haus. Beim Alter der temperamentvollen Tochter rätselt man allerdings eine Weile, denn ihr bester Freund ist der sechsjährige Nachbarsjunge Tamay. Seltsam ist auch, dass sie „Anne Kaffeekanne“, ein beliebtes Kinderlied, am liebsten hört und laut mitsingt. Später in der Handlung versteht man, dass Mia das Down-Syndrom hat. Aber dann passieren gleich zu Beginn zwei Dinge parallel. Bens Vater sucht nach einem Unterschlupf, denn er hat seine Frau Milena betrogen und die Polizei steht vor der Tür und bringt die beiden aufgegriffenen Kinder Mia und Tamay zurück. Mia hatte die Idee, ihre Mutter, die sie noch nie getroffen hat, zu suchen.
In Rückblenden erinnert sich Ben, aber auch Orna, die Mutter von Mia und Vater Emil schweifen gedanklich oft in die Vergangenheit zurück. Ben lernt Orna bei einer Autofahrt kennen und verliebt sich sofort in die lebendige, attraktive Frau. Von Anfang an stellt Orna klar, dass sie nie Kinder bekommen wird. Ben, der laut medizinischem Gutachten, nicht zeugungsfähig ist, akzeptiert diese Tatsache. Doch dann zerbricht die Beziehung zwischen Orna und Ben, wobei Orna im Nachhinein feststellt, dass sie schwanger ist.
In Fabian Neidhardts Roman dreht sich vieles um Verletzungen, die Menschen einander antun können. So schmerzt Ben lebenslang, dass sein Vater ihm nie richtige Wertschätzung entgegengebracht hat. Orna ( Der Vorname ist an die israelische Autorin Orna Donath angelehnt, der Autorin von „Regretting Motherhood“.) hat ihm zwar Mia geschenkt, doch sie blieb bei ihrer festen Entscheidung, kein Kind großzuziehen. Sie will das auf gar keinen Fall, auch nicht, wenn sie ihr eigenes Baby, dass nun auch noch das Down-Syndrom hat, sieht. Das war Bens stille Hoffnung und sein Verrat. Orna wirft Ben mit Baby nach der Geburt aus der Wohnung. Heftig und konsequent. Emil hat seine Frau verletzt, wobei auch am Ende, einem wahren familiären Showdown herauskommen wird, dass beide eigentlich vereinbart hatten, eine offene Ehe zu führen.
Als dann Orna wirklich zum Familientreffen dazustößt, verletzt es sie, dass Ben den eigenen Eltern nie gesagt hat, dass es mit Orna ganz klar verabredet war, dass er das Kind nehmen wird. Sie hat somit nie ihr Kind verlassen und sich auch nie um diese Verantwortung gedrückt.
Für Orna hatte ein unsicheres, nicht planbares Leben voller Spontanität und Freiheit Priorität und die eigene berufliche Karriere. Wäre sie ein Mann, würde sich niemand wundern.
Sprachlich und figurenpsychologisch, immer kommt es zu völlig neuen Wendungen und Entscheidungen der handelnden Charaktere, ist Fabian Neidhardt ein Buch gelungen, über das man sicher kontrovers diskutieren kann. Der Autor wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, die in Familien, wo geredet und zu oft geschwiegen wird, nicht neu sind und thematisiert doch, in der deutschsprachigen Landschaft immer öfter anzutreffen ( aktuell auch Verena Keßler „Eva“ ), andersartig die Rolle der Mutter und die des Vaters, der gegenwärtig alles anders machen will, auf höchst interessante Weise.