Volker Jarck: Robuste Herzen, S.Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2022, 336 Seiten, €22,00, 978-3-10-397084-5
„Und nächstes Jahr, denkt Leon, während er sich die Wolldecke bis zum Kinn hochzieht und die Lichter auf den Tannenzweigen von oben nach unten zählt, selbst wenn alle Behnkes wieder gemeinsam feiern dürfen, werden die Feiertage wieder ganz anders sein, weil man Familie halt immer neu erfinden muss, wenn am Stammbaum die Äste sprießen.“
Alles beginnt mit Abschieden, von der Mutter Marlies und von einer für stabil gehaltenen Ehe. Katja Schumann, geborene Behnke sitzt in der Nacht im fiktiven Ort Tallstedt an der Nordsee und wirft ihren Ehering weit von sich. Gerade hatte ihr Mann Jan ihr gebeichtet, dass er eine andere Frau, ausgerechnet ihre Frauenärztin, liebt. Kleinstadtleben – jeder kennt jeden, jeder sagt beim Abschied: „Man sieht sich.“ und das wird sich auch nicht vermeiden lassen. Katja glaubte, alles zu besitzen: Mann, Kind, Beruf, Haus, Tandem. Und nun? Katjas Bruder Leon, genannt Lego, hat die Kleinstadt Richtung Berlin verlassen und arbeitet dort seit Jahren als Notfallsanitäter. Die Jüngste der Familie Behnke ist Milena, genannt Kröti. Sie erleidet einen Unfall und erfährt so im Krankenhaus, dass sie schwanger ist. Als Alleinerziehende mit der fünfjährigen Tochter Amy und als selbstständige Musiklehrerin hat sie es nicht leicht. Nun mit Freund David könnte alles besser werden, würde er nicht so weit weg in Münster arbeiten.
Zeitlich versetzt erzählt Volker Jarck vom ganz alltäglichen Leben der Familie Behnke, auch in der Pandemiezeit. Die Eltern sind Marlies und Lothar Behnke. Er hat als Zahnarzt gearbeitet und sie hat die drei Kinder großgezogen. Von den Kindertagen zeugen die Schuhkartons mit all den Erinnerungen. Doch nun sind die Geschwister, die auf so wunderbar liebevolle Art aneinander hängen, erwachsen. Katja und Milena sind immer im Gespräch und Leon sendet seiner ältesten Schwester über WhatsApp Schnappschüsse aus Berlin. Leon entwirft in seiner Freizeit Brettspiele und er kümmert sich rührend um den alten Herrn Haffner aus seinem Haus. Leons eigensinnige Freundin Isabel aus Dortmund verweigert jegliche Familienidylle. Sie will Leons Familie nicht kennenlernen und Kinder haben schon gar nicht. Ein Grundkonflikt, der zum Scheitern verurteilten Beziehung. Milena wird sich mit allzu schlechtem Gewissen entscheiden müssen, ob sie nun mit David, der extrem gut verdient und ihr eine große Wohnung fast zu Füßen legt, zusammenleben will oder sich doch für die Familie in Tallstedt entscheidet. Katja braucht ihre Zeit, um über den Verlust ihrer Ehe hinwegzukommen, sich zu erklären, was eigentlich geschehen ist. Beruflich als Bibliothekarin fest im Sattel erwachsen ihr keine finanziellen Verluste, auch wenn Sohn Henry mit seinen sechzehn Jahren und entsprechenden Konflikten eher im Hintergrund bleibt, später aber studieren wird. In einem Sammelsurium aus Alltagskonflikten entsteht ein Bild vom stabilen Mittelstand, von Menschen, die nicht aufgeben, weil sie einander und eine Zukunft haben.
Feinsinnig taucht der norddeutsche Autor in eine Familiengeschichte ein, die auch, das ist erfrischend, nicht dysfunktional ist. Zwar werden die Erwartungen der Eltern nicht ganz erfüllt, aber das ist doch eher normal.
Am Ende wird niemand ins Elternhaus ziehen, die Geschwister leben in Hamburg, Münster und Berlin und der Autor resümiert:
„Wie die Zeit versickert.“