Eckart Nickel: Spitzweg, Piper Verlag, München 2022, 254 Seiten, €22,00, 978-3-492-07143-7
„Es gab offenbar kein Buch, das ich je gelesen hatte, das Carl nicht auch kannte und liebte. Nur war er anders als ich dazu in der Lage, die Lektüren absolut beiläufig zu erwähnen und dabei gleichzeitig sein Wissen durchschimmern zu lassen, ohne einen damit vor den Kopf zu stoßen. Er holte aus der Schublade unter seiner Ottomane einen Bildband hervor, auf dessen Umschlag ein Gemälde prangte, und stellte ihn so hin, dass wir es gut betrachten konnten.“
Bei Carl und seinem Freund handelt es sich in Eckart Nickels Roman nicht um Männer um die vierzig oder fünfzig, sondern um Jugendliche, die vor ihrem Abitur stehen. Zwar behauptet der Ich-Erzähler Kunst sage ihm nichts und gebe ihm auch nichts, wie man es von durchschnittlichen Abiturienten erwarten würde, doch stimmt das nur zum Teil. Carl hingegen redet wie ein Mensch aus dem 19. Jahrhundert und seine Vorliebe für Gemälde von Carl Spitzweg erscheint äußerst manieriert und artifiziell. Man lebt analog mit Schallplattenspieler und Verehrung auch für Balthus und Max Beckmann und Musik von Gustav Mahler, trägt altmodische Sockenhalter und kleidet sich wie ein Prokurist.
Der Ich-Erzähler des Romans freundet sich mit dem in der Schule ziemlich schweigsamen neuen Schüler Carl an, als beide für ihre Mitschülerin Kirsten Partei ergreifen. Kirsten, die als einzige in der Klasse wirklich Talent zum Zeichnen hat, wurde von der Kunstlehrerin bei der Betrachtung ihres Porträts, so glaubt sie, beleidigt. Der Ich-Erzähler, der Kirsten mehr als mag, ist ihr sogenannter Fehlpate, d.h. er kümmert sich um die Schuldinge, wenn sie krank ist. Auch Kirstens Familienleben ist ungewöhnlich. Ihre Eltern scheinen eine Allergie gegen das moderne Leben zu haben, gegen Plastik u.v.a.m.. Auch der exzentrische Deutschlehrer, Herr Dr. Fant, fragt seine Schüler nach den Ferien nicht nach Reiseerlebnissen, sondern nach ihrer Urlaubslektüre. Witzig.
In diesem Roman, in dem Kirsten aus Rachegelüsten ihr Verschwinden mit Hilfe von Carl und dem Ich-Erzähler vortäuschen wird, dreht sich alles um Kunst, aber auch Künstlichkeit, Original oder Fälschung, um Realität und Fantasie, um Pop und Hochkultur. Konsumiert wird hier auf der gymnasialen Ebene die Schule des Sehens, nicht der Informationsflut oder die Oberflächlichkeit der
sozialen Medien. Dabei steht Carl Spitzweg ( „Der Hagestolz“ auf dem Buchcover ) als Künstler im Zentrum von vielen Gesprächen und Bildinterpretationen, aber nicht nur er.
Immerhin hat sich Carl in seinem „Kunstversteck“ nach dem Vorbild von Balthus vergraben und frönt hier seinen Leidenschaften. Doch wird er in Konkurrenz zu seinem neuen Freund dieses verlassen, um seinen realen Empfindungen für Kirsten zu folgen, die der Ich-Erzähler nicht gutheißen kann.
Ein Bildungsroman, vorgetragen in einem ironischen Erzählton und durchdrungen von Reflexionen, ist entstanden, wobei sich der Lesende fragt, welche Bedeutung heute noch ein Außenseiter hat, der sich allen gesellschaftlichen Gegebenheiten entzieht, um sich auf das wirklich Sehens – wie Lesenswerte in einer Welt voller Mittelmäßigkeit zu konzentrieren.