Milena Moser: Mehr als ein Leben, Verlag Kein & Aber, Zürich 2022, 560 Seiten, €27,00, 978-3036958729

„Sie wusste, was von ihr erwartet wurde. Und plötzlich wusste sie auch, dass sie das ein Leben lang trainiert hatte: Zu sagen, was von ihr erwartet wurde. Zu fühlen, was in bestimmten Situationen gefühlt werden musste. Angemessen zu reagieren. Kein Wunder, dass sie sich nicht kannte.“

1975: Die Schweizerin Helen Bertschi ist das Kind von getrennten Eltern. Ihre Mutter Vera ist eine streitbare Frau, die aber mit ihrer Scheidung von Luc, dem charismatischen Mann, den alle aus den Medien kennen, nicht klar kommt. Sie beginnt zu trinken, denn sie musste ihr Haus aufgeben und wohnt nun sozial abgestiegen in der Siedlung. Die anderen Mütter schauen mitleidig auf Vera herab. Nur ihre Nachbarin Rita, die mit ihren vielen Kindern ebenfalls bemitleidet wird, fühlt Empathie für die junge Frau. Helen ist befreundet mit Frank, dem Sohn von Rita. Als Vera wiedermal am Morgen nicht aus dem Bett kommt, geht Helen an ihrem ersten Tag sogar allein zum Kindergarten. Frank steht an ihrer Seite, gibt ihr seine Hausschuhe und sein Pausenbrot, denn Helen hat in ihrer Verzweiflung eine Zwiebel in ihre Dose getan. Darüber macht sich die Kindergärtnerin Kati lustig, die Jahre später ihre Stiefmutter werden soll. Helen ist nur auf ihre Mutter fixiert. Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr wird sie immer darauf achten, dass ihre Mutter zumindest nach außen nicht auffällt. Letztendlich ist das zu viel Verantwortung für ein Kind. Als Helens Vater sich in Kati verliebt, ein wunderbares Fachwerkhaus kauft und Zukunftspläne schmiedet, entsteht die Idee, Vera das Jugendamt auf den Hals zu hetzen, um das Sorgerecht dem Vater zuzusprechen. Die Erwachsenen instrumentalisieren das Kind, um ihre Pläne durchzusetzen. Einerseits spürt der Lesende, dass Helen mit der Mutter viel zu viel aufgebürdet wird, zum anderen weiß er, dass das Kind sich diesen Verrat der Mutter nie verzeihen würde.
Milena Moser erzählt nun zeitlich versetzt von 1975 bis 2016 von Helen und wie ihr Lebensweg bei unterschiedlichen Entscheidungen hätte verlaufen können. Mal heißt Helen, Elaine, mal Luna. Für jeden neuen Lebenslauf trägt sie neue Namen.
Elaine als erwachsene Frau erwacht im Krankenhaus und kann sich an ihren Unfall nicht mehr erinnern. Nach und nach kehren die Erinnerungen zurück und Elaine, die offenbar mit Frank verheiratet und am Ende nicht glücklich war, hat sich einem anderen Mann zugewandt, Piet. Sie erkennt ihre Kinder nicht und sie wagt nicht, nach Max zu fragen, der offenbar behindert ist.
Luna wiederum ist nun Ende Vierzig und seit ihrer Jugendzeit in San Francisco Au-pair in verschiedenen Familien. Sie hat eine Krebserkrankung hinter sich und stürzt an der Treppe.
1987 setzt eine Handlung ein und Elaine wohnt wie geplant nun beim Vater und bei Kati, die inzwischen Zwillinge bekommen hat. Zu ihrer Mutter Vera hat sie ein äußerst schlechtes Verhältnis, denn Elaine hat gegen die Mutter ausgesagt. Für die Mutter ist Luc weiterhin der Held und Kati die böse Hexe. Da Luc ein Angebot als Auslandskorrespondent fürs Radio nach San Francisco erhält, nimmt er seine Tochter Helen mit.
Elaine, und das bleibt eine Konstante in allen Handlungen, sucht immer den Kontakt zu Frank, ihrem lebenslangen Freund und auch ersten und ewigen Liebe.
Ausführlich wird über das Leben in der Schweiz und in San Francisco erzählt. Ob als Luna oder Elaine, immer ist Helen auf der Suche nach sich selbst, nach ihrer Identität, dem richtigen Leben und dem so oft beschriebenen Glück.
Die detailreiche, psychologisch variantenreiche Handlung in all ihren Facetten und Zeitsprüngen öffnet sich sehr weit in die Erzählbreite. Über lange Strecken bleiben dramaturgisch clever wichtige Informationen im Verborgenen. Aber dadurch dehnen sich die einzelnen Handlungsstränge auch und das führt leider oft zu Längen.