Kristine Bilkau: Nebenan, Luchterhand Literaturverlag, München 2022, 288 Seiten, €22,00 ,978-3630-87519-4
„Sie erreicht Mona und Eriks Auffahrt, sie kann es nicht lassen und geht wieder den Weg hoch zum Haus. Eine Amsel zetert und fliegt davon, es ist inzwischen dunkel geworden. Erstaunt bleibt sie stehen, das Garagentor steht offen. Jemand war hier, sie sind zurück, durchfährt es sie.“
Doch Julia irrt sich, die Nachbarn, die Familie Winter, sind mit den drei Kindern verschwunden. Das gelbe Klinkerhaus ist nicht mehr bewohnt, obwohl niemand die Möbel abgeholt hat. Der Briefkasten quillt über vor Post. Als Julia Mona zuletzt gesehen hat, war klar, da kommt ein viertes Kind. Der mürrische Erik hat sich darum bemüht, einen Weinhandel aufzuziehen, aber Julia und ihr Mann Chris mochten den angebotenen Wein nicht. In der kleinen Ortschaft stehen viele alte Häuser leer. Vor einiger Zeit sind Julia und ihr Mann Chris von Hamburg aus in das kleine Backsteinhaus aus dem Jahr 1921 gezogen. Julia ist nun Ende Dreißig und hofft darauf, schwanger zu werden.
In der Nachbarschaft wohnt auch die alte Elsa, die manchmal etwas verwirrt in Julias Garten steht. Ihre Nichte ist Astrid, die Ärztin aus dem naheliegenden Ort, die ebenfalls ein Haus am Kanalufer mit ihrem Mann Andreas, der als Lehrer bereits in Pension ist, bewohnt. Die Kinder sind aus dem Haus und langsam könnte Astrid auch kürzer treten. Doch wer soll ihre Praxis übernehmen? Der Ort stirbt langsam, das zentrale Kaufhaus wird abgerissen, die Läden sind mit Spanplatten verbarrikadiert. In einer Zeit, in der der Leerstand günstig von der Steuer absetzbar ist und Mieten einfach zu hoch, ist der soziale Frieden in Gefahr. Die sechzigjährige Astrid fühlt sich auch neuerdings von Briefen bedroht, in denen sie jemand beschimpft und ihre fachliche Kompetenz in Frage stellt.
Immer wieder im Wechsel schauen die Lesenden in die Leben der unterschiedlichen Frauen, ob es nun Elsa, Julia oder Astrid ist. Alles scheint in Auflösung, wenn nicht mal die Post ordentlich ausgetragen wird, sondern von Astrid an einem Feldrand gefunden wird. Kunststoffpartikel verbreiten sich in der Förde, offensichtlich klein geschredderter Müll von den nahe gelegenen Stadtwerken.
Freundschaften zerbrechen, so rufen Julias Freundinnen zwar an, aber niemand begibt sich auf den Weg über die Fähre zu ihrem neuen Haus. Astrids Freundschaft zu Marli ist zerbrochen, als deren Sohn auf brutale Weise Tiere gequält hat. Nun ist Marli wieder im Ort und Astrid wünscht sich die alte Nähe wieder zurück. Alles ist brüchig und so empfindlich geworden. Jeder sehnt sich nach den 1990er Jahren zurück, wo man noch über alles sprechen konnte, auch über Politik.
Astrid hatte auf dem Feld auch einen Brief an die Winters gefunden. Als sie ihn öffnet, da immer noch niemand bei den Winters zu Hause ist, wird klar, dass dies eine Räumungsklage ist.
In den Nachrichten geht es um „alternative Fakten“ und so ist die zeitlich Einordnung der Handlung auch klarer. Alle Personen werden sich auf die eine oder andere Weise kennenlernen. Astrid kauft in Julias neuer Keramikwerkstatt eine Schale für Marli, Elsa ist die Nachbarin von Julia und Andreas wird sich für das Jugendhaus engagieren und dabei Julia begegnen.
Jeder Figur hat ihre ganz eigenen Obsessionen, so betritt Julia nach ihrer Fehlgeburt eine Kita in Hamburg und will ihren Sohn anmelden und behauptet sogar noch, sie bekäme Zwillinge. Außerdem verliert sich Julia in den Livestreamen von angeblich so glücklichen Großfamilien. Astrid sorgt sich um Elsa, die in klaren Momenten ihren Hausstand auflöst und sie wird immer unsicherer, denn der Inhalt der anonymen Briefe setzt ihr zu.
Wie dünn ist das Netz der Verbindungen zwischen Menschen in einer Welt, in der doch jeder zu jedem Zeitpunkt erreichbar ist und viele ihr so ganz normales Leben sogar öffentlich ausstellen.
Kristine Bilkau legt den Finger in all unsere aktuellen Wunden.