Helga Bürster: Eine andere Zeit, Insel Verlag, Berlin 2022, 251 Seiten, €23,00, 978-3-458-64285-5

„Heute Morgen stellte sie sich den Himmel über Usedom vor mit seinen schweren Wolken. Sie dachte auch über die Weite und an das Nichts, an Suse, an Lore und an den Vater, sogar an Franz dachte sie …. Und dann dachte sie, dass es im Grunde keinen Unterschied machte, ob sie hier oder dort oder anderswo mit ihrem kleinen Leben scheiterte.“

Der Ort der Handlung ist Vorpommern, der Kamp und Bugewitz, aber auch Anklam und dann das weit entfernte Berlin. Auf dem Kamp lebt die Familie Jendrich. Hans Jendrich ist zu Beginn der Handlung 2019 im Altenheim, seine Tochter Enne, fast sechzig Jahre alt, lebt noch im Haus mit Eddy, der eigentlich vor dreißig Jahren ihre jüngere Schwester Suse heiraten wollte. Nun lebt sie mit ihm zusammen, doch gedanklich sind beide bei Suse, die über Ungarn in den Westen abgehauen ist und nie wieder Kontakt zu ihrer Familie aufgenommen hat. Auch nicht zu Hans‘ Schwester Magda oder ihrer Kusine Christina, die damals in einer grauen Stadt an der Ruhr lebten. Ennes Mutter Lore wird vor Kummer über den Verlust der Jüngsten langsam sterben.
Nach der Wende haben viele Einwohner im Ort ihre Häuser verlassen. Auch das Haus gegenüber der Jendrichs stand lange leer, nun ist wieder jemand eingezogen. Der Postbote verrät den Namen der Frau, Ilse Pohl, die nie jemand zu Gesicht bekommt. Enne, Eddy und auch Christina, die gleich nach der Wende ins Dorf gezogen ist, glauben, es könnte Suse sein.

Gedanklich springt Enne in die Jahre vor der Wiedervereinigung Deutschlands und erzählt vom zerrissenen Leben in der DDR. Christina, die Kusine aus dem Westen, reist gern in den Sommerferien mit der lauten und herrischen Mutter zu den Verwandten in den Osten. Sie schicken Westpakete, dabei muss die Mutter selbst jeden Pfennig umdrehen, um über die Runden zu kommen. Die Jendrichs arbeiten viel und sorgen sich um die kranke Suse, die als Pubertierende zum Grufti wird und sich immer wie eine Außenseiterin fühlt. Als Enne 1977 eher unfreiwillig mit Suse nach Berlin zu einem Konzert fährt, gerät nur sie in Tumulte und in die Fänge der Staatssicherheit. Hält Ennes immer schweigsamer Vater sich, was politische Äußerungen betrifft eher zurück, so steht er nun wortgewandt auf der Seite seiner Tochter, was beider Verhältnis sehr verbessert. Enne darf kein Abitur machen und hat Berlinverbot.
Sie lässt sich zur Sekretärin ausbilden und verfolgt mal mehr mal weniger intensiv ihrem Traum, Schauspielerin zu werden. Für die Eltern ist dieser Berufswunsch unverständlich. Zwar nimmt Enne Schauspielstunden, doch wird sie den Beruf nicht ausüben. Als Regisseurin darf sie Märchenstücke am Anklamer Theater inszenieren.
Parallel zu Ennes Lebensgeschichte versetzt sich Helga Bürster in das Denken von Christina, die zwar Abitur machen konnte, sich aber im Lehramtsstudium, dass die Mutter ihr aufgedrängt hatte, total unwohl fühlt. Sie wollte bereits 1979 am liebsten auf dem Kamp wohnen, da wo es ruhig ist, die Natur noch greifbar und die Menschen schweigsam. Auch sie landet in einer Nische und arbeitet für einen esoterischen Buchladen nach Abschluss des Studiums. Hier scheint sie ihre Fähigkeit entdeckt zu haben, Geister zu sehen.

Und so behauptet sie auch 2019, dass sie angeblich Suse gesehen haben will.
Mag sich in der Welt so einiges zu ändern, auf dem Kamp scheint das Leben zwar weiterzugehen, aber richtig gut, wird es nicht. Mittlerweile gibt es keinen Laden, keinen Arzt und keine Sparkasse.
Eddy repariert, vielleicht auch aus Protest, alles, was in der Umgebung kaputt geht und stemmt sich gegen die Überflussgesellschaft.

Es ist der Blick in eine andere Zeit, den die Norddeutsche Helga Bürster, die wieder in Bremen lebt, gewährt. Doch er folgt keinen üblichen Klischees vom Osten und Westen Deutschlands vor und nach der Wende. Wunderbar sympathisch zeichnet sie ihre fiktiven Figuren, an wahre Erzählungen der Schauspielerin Simone Winde angelehnt, trifft einen leichten wie tiefgründigen Erzählton, der fesselt und vor allem lässt sie Leerstellen, die die Lesenden selbst füllen können.