Dror Mishani: Vertrauen, Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 351 Seiten, €22,00, 978-3-257-07177-1

„Avraham weiß da noch nicht, dass er im Verlauf ihrer Begegnung feststellen wird, dass dies das Gespräch ist, auf das er gewartet hat. Und dass er danach verstehen wird, dass die beiden Fälle zusammenhängen, nicht nur, weil sie am selben Tag aufgenommen wurden und ihn beide nach Paris geführt haben, sondern auch, weil der eine ihm helfen wird zu entscheiden, wie er sich in dem anderen verhalten soll.“

Der sympathische Oberinspektor Avi Avraham, der gern Krimis liest und nicht Klassiker wie „Don Quijote“, eine Empfehlung seines Chefs, hat vor kurzem geheiratet und irgendwie das Gefühl, dass er sich mit seinen Mitte vierzig beruflich irgendwie doch bewegen müsste, aus dem Erdgeschoss zusagen in Richtung Dach. Doch dann holt ihn der Berufsalltag wieder ein. Ein Frühchen wurde dem Wolfson – Krankenhaus in einer Tasche vor die Tür gelegt. Zur Vernehmung vorgeladen wird Liora Talias, eine Mutter von vier Töchtern, die sich mit ihrem Erzieherinnenjob in einer Kita kläglich durchs Leben schlägt. Ihre Gedanken verfolgt der Lesende und spürt ihre innere Verzweiflung, denn sie hat ihren geliebten Mann durch einen Unfall auf der Baustelle, den sie Mord nennt, verloren. An ihrer Seite ist der religiöse Mordechai, ein ehemaliger Freund des Ehemannes. Wie Moses setzt Liora das Baby aus, dass sie eigentlich abtreiben wollte. Doch wer ist nun die Mutter des Kindes? Esthi Wahabe wird mit Avi den Fall zusammen übernehmen. Allerdings leidet Esthi unter einer Augenkrankheit, die die aggressive Liora immer wieder zum Anlass nimmt, um die Polizistin zu beschimpfen.
Parallel zu diesem Fall verschwindet ein Schweizer Tourist namens Jaques Bartoldi aus einem Strandhotel. Zwei Männer kommen und holen seine beiden Koffer ab. Später wird seine Leiche im Meer gefunden. Allerdings hat sich der Mann unter falschem Namen im Hotel eingetragen. Als die Polizei seinen wahren Namen, Raphael Chouchani, erfährt, beginnt Avi Kontakt zur Tochter des Mannes in Paris aufzunehmen. Sie behauptet, er sei kein Schmuggler oder Drogendealer, sondern habe lang beim Mossad gearbeitet. Avis Chef will den Fall natürlich gleich loswerden. Offenbar wurde Chouchani, bevor er ins Meer gegangen oder geworfen wurde, Gewalt angetan. Als Avi im Hotelzimmer Chouchanis dann plötzlich 600g Kokain findet, beginnt er doch zu ermitteln. Wen hat Chouchani angerufen und warum ist er von Paris aus nach Jerusalem geflogen? Wer hat seine Wohnung durchwühlt und wonach wurde gesucht?
Auch im Fall des Frühchens, einem Mädchen, dass um sein Leben ringt, gibt es Fortschritte. Liora ist eindeutig nicht die Mutter, aber sie ist mit dem Kind verwandt. Da Lioras sechzehnjährige Tochter Danielle so schnell zu Bekannten nach Paris entschwunden ist, vermutet die Polizei, dass sie die Mutter des Kindes ist. Liora hat ihr Vertrauen in jeden verloren. Auch ihr Anwalt kann ihr nicht helfen. Sie will Öffentlichkeit und setzt sich mit einer Journalistin in Verbindung und behauptet, dass ihre Tochter von einem Araber vergewaltigt wurde. Allein, dass er sich ihr nicht als Araber offenbart hat, ist für Liora eine Vergewaltigung.

Glauben und Vertrauen sind die beiden großen Begriffe, die über der Handlung schweben.
Mit großer Liebe zum Detail, viel Sinn für seelische Unterströmungen und einer Referenzen an Kurt Wallander konstruiert Dror Mishani eine langsam sich in ihrer Spannung steigernde Handlung.
Die Behäbigkeit und Entwicklung des Plots darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie brisant beide Fälle sind. Seine Figuren reflektieren ihr Handeln, fühlen sich mal überlegen und mal voller Zweifel. Und auch der Lesende wankt in der Verteilung seiner Sympathien. Doch immer auf Avis Seite hofft er auf Klarheiten in beiden Fällen, die immer wieder durch unerwartete Wendungen auf sich warten lässt.
Erst am Ende öffnet sich ein kleines Fenster und das hat, wie kann es nicht anders sein, etwas mit dem Verhältnis zwischen Juden und Arabern zu tun.
Dass Avi den spannenden Posten in Den Haag nicht annimmt, war eigentlich klar. Denn der Fall des angeblichen Schweizer Touristen ist noch nicht geklärt.