Martina Borger: Wir holen alles nach, Diogenes Verlag, Zürich 2022, 296 Seiten, €13,00, 978-3-257-24569-1
„Worüber sollte sie sich beklagen? Sie hat ein gutes Leben. Das nur wieder ein bisschen farbloser geworden ist, ein bisschen enger und kleiner. Aber, so sagt sie es sich immer wieder, es ist normal in ihrem Alter, dass alles nachlässt, weniger wird. Und es nicht mehr so viel gibt, auf dass man sich freuen kann.“
Ellen hat sich mit allem arrangiert, ihren Lebensstandard auf ein Minimum zurückgefahren, denn letztendlich bleibt ihr auch nichts anderes übrig. Seit sie ihre Arbeit als Buchhändlerin aufgegeben hat und in Rente gegangen ist, fehlt es an allem. Auch wenn sie sich noch so einschränkt, muss sie weiterhin Minijobs annehmen. So trägt sie jeden Morgen mit ihrem Hund zusammen die Zeitungen aus und gibt am Nachmittag Nachhilfestunden für SchülerInnen. Ellen ist seit fünfundzwanzig Jahren Witwe, die erwachsenen Söhne sind aus dem Haus und leben auch weit ab von München. Doch die Achtundsechzigjährige, die einen kleinen Freundeskreis hat, fühlt sich nicht alt, obwohl der Blick in den Spiegel etwas anderes erzählt. Der achtjährige Elvis, einer ihrer Nachhilfeschüler, erklärt ihr auf seine kindlich naive Art auch, dass sie für ihn immer noch jung wirkt.
Elvis Mutter Sina, die in einer Werbeagentur arbeitet, wünscht sich manchmal, sie wäre bereits in dem Alter, wo alle Sorgen, gerade um Elvis, längst vorbei wären. Sie hadert mit ihrem geschiedenen, recht oberflächlichen Mann David, der in keinster Weise Verantwortung für sein Kind übernimmt. Sina besorgt, dass der Junge viel zu ernst ist, schmächtig und verträumt.
Martina Borger lässt ihre beiden sehr unterschiedlichen Hauptfiguren Ellen und Sina jeweils aus der Ich-Perspektive erzählen und so verfolgt der Lesende all ihre inneren Konflikte hautnah.
Sina lebt mit dem ruhigen Torsten zusammen, der seine letzte Arbeit durch seine alkoholischen Exzesse verloren hat. Als trockener Alkoholiker findet er jedoch keinen Job. Torsten ist geschieden und im Gegensatz zu David bemüht er sich sehr, um Kontakt zu seinen Söhnen zu bekommen. Er ruft sie an, schickt Päckchen und Geschenke zum Geburtstag und erntet einen schmallippigen Dank.
Als Sina in den Ferien niemanden findet, der sich um Elvis kümmern kann, bittet sie Ellen gegen Bezahlung um eine vierzehntägige Betreuung. Auch wenn Ellen dies nie zugeben würde, freut sie sich auf die Zeit mit Elvis, der ein zwar wortkarger, aber doch liebenswerter Junge ist. Und Elvis liebt Ellens Hund heiß und innig. Er geht in diesem Sommer lieber mit dem Hund in den Park als ins Schwimmbad. Als Elvis nach dem Wochenende wieder bei Ellen vor der Tür steht, erscheint ihr das Kind doch verändert. Am Samstag war er mit Torsten zelten, am Sonntag bei einem Freund zur Übernachtung. Als Ellen dann feststellt, dass Elvis diverse große blaue Flecken am Körper hat, informiert sie Sina. Allerdings geht die Information im Alltagsstress unter, auch fühlt sich Sina mit ihrem ewigen schlechten Gewissen dem Kind gegenüber von Ellen bevormundet. Sina muss als alleinerziehende Mutter einfach zu viele Aufgaben bewältigen. Ihre Arbeit in der Werbeagentur fordert ihre ganze Aufmerksamkeit, dann hofft sie, dass Elvis es schafft, seine Leistungen zu verbessern, um aufs Gymnasium zu kommen und sie hat einen Partner, der ebenfalls aufgebaut werden muss. Elvis trägt völlig überfordert feinfühlig alle Sorgen der Mutter mit und will sie auf keinen Fall mit seinen Problemen belasten. Auch Ellen gegenüber kann er sich nicht öffnen und Torsten hat ihn zum Schweigen gezwungen, obwohl Sinas Partner nicht der Schläger ist.
Als dann an einem Tag Sinas Miete erhöht wird, ihr Job in der Agentur nicht mehr sicher ist und eine Frau vom Jugendamt bei ihr anruft, da auch die Lehrer festgestellt haben, dass Elvis offensichtlich geschlagen wird, eskaliert die Handlung und alle Beziehungen werden für Sina in Frage gestellt.
Martina Borger schreibt auf literarisch leichte Weise von ernsten Alltagssorgen zweier sehr unterschiedlicher Generationen mit ihren ganz eigenen Konflikten. Dieses Buch, das ist ein Versprechen, kann man erst aus der Hand legen, wenn die letzte Seite umgeblättert ist, denn die Handlung, die überall spielen könnte, berührt, wühlt auf und endet doch ohne Sentimentalität auf eine gute Weise.