Mary Lawson: Im letzten Licht des Herbstes, Aus dem Englischen von Sabine Lohmann, Heyne Verlag, München 2021, 352 Seiten, €22,00, 978-3-453-27357-3
„Dann kam er wieder zur Vernunft. Er, Liam Kane, hatte Mrs. Orchards Besitztümer heute Nachmittag in Kartons gepackt, und irgendwer hatte sie wieder ausgepackt, als er draußen war. Daran war nichts Metaphysisches.“
Das Haus von der alten Elizabeth Orchard in Nord-Ontario steht nun schon einige Wochen leer. Die siebenjährige Clara blickt bewachend von ihrem Fenster auf dieses Haus, denn sie kümmert sich um Mrs. Orchards Kater Moses bis sie aus dem Krankenhaus zurückkehrt. Und Clara wartet auf ihre sechzehnjährige Schwester Rose, die nach einem fürchterlichen Streit mit der Mutter erneut abgehauen ist. Niemand hat jedoch dem Mädchen gesagt, dass die alte Nachbarin schon längst verstorben ist und ein neuer Mieter einziehen wird. Liam Kane bewohnt nun das alte Haus, dessen Dach marode ist und der Boden im Bad bald durchbrechen könnte. Der stille Fünfunddreißigjährige kommt aus Toronto, und scheint an einem Wendepunkt in seinem Leben zu stehen. Nach dem Ende seiner achtjährigen Ehe mit der attraktiven, jedoch ziemlich fordernden wie kühlen Fiona hat er auch gleich seinen langweiligen Job als Buchhalter aufgegeben. Mrs. Orchard hat Liam nicht nur das Haus, sondern auch ihre Ersparnisse vererbt.
Aus Carlas, Liams und auch der Sicht von Elizabeth, die sich gedanklich an ihren bereits toten Mann wendet, erzählt die Autorin Mary Lawson vom Herbst 1972, aber auch von Erinnerungen, die besonders Mrs.Orchard an ihrem Lebensende noch einmal Revue passieren lässt.
Carla betrachtet mit Argwohn, dass der Fremde im Haus alles einfach einpackt, was Mrs. Orchard so liebevoll angeordnet hat. Sie ahnt nicht, was Elizabeth und ihr Mann Charles durchgemacht haben. Nach der fünften Fehlgeburt war die junge Frau, 1942, völlig am Ende und dann zogen auch noch ins Nebenhaus Leute mit Kindern ein. Als Erzieherin hat sie einen guten Blick für Kinder, aber auch Eltern. Schnell spürt sie, dass Annette, die Mutter des vierjährigen Liam, sich wenig Zeit für das Kind nimmt und er sie mit seiner angeblich eigenwilligen Art nicht ärgern will. Es scheint so zu sein, als hätte der ahnungslose Liam etwas Unverzeihliches getan, was Annette total aus der Bahn wirft. Die Mutter kann sich nur ihren beiden Zwillingspärchen, vier Mädchen, liebevoll zuwenden. Elizabeth beginnt, sich immer öfter und länger um Liam zu kümmern. Sie liebt dieses Kind, das so herrlich zeichnen kann. Mit Ärger sieht ihr Mann diese Symbiose, denn auch Liam fühlt sich am wohlsten bei Elizabeth. Als er dies eines Tages klar ausspricht, als seine Mutter ihn abholen will, bahnt sich eine Katastrophe an.
Als Liam dann eines Tages doch Carla in seinem Haus entdeckt, gewährt er ihr den Zugang, um Moses zu füttern und mit ihm zu spielen, Carlas Mutter hat eine Katzenhaarallergie. Aber Liam möchte keine Nähe zu dem Kind. Carla jedoch vertraut ihm, denn sie spürt, dass ihre Eltern sie nur anlügen, ob es nun um den Tod der Nachbarin geht oder das Verschwinden ihrer großen Schwester.
Eine Information, die sie von einem Freund von Rose erfahren hat, will sie unbedingt der Polizei zugänglich machen, ohne den Freund zu verraten. Liam soll vermitteln.
Diese Geschichte von einer Frau, die all ihre Liebe einem Kind schenken wollte, dass in seiner eigenen Familie nicht gesehen wird, berührt sehr. Nach dem Tod ihres Mannes wagte Elizabeth es, mit Briefen wieder Kontakt zu Liam aufzunehmen. Liams Beziehung zu seiner Mutter Annette hat sich nie verbessert. Nach dem Schulabschluss hat er das Haus der Mutter verlassen, um nie wieder zurückzukehren.
Erfrischend ist, wie die Leute im Ort, der Dachdecker, aber auch Carla, Liam trotz seiner Zurückhaltung einfach vereinnahmen und ihn so ins Leben zurückziehen. Er steht vor der Entscheidung, das Haus zu verkaufen oder einen Neuanfang im Ort zu wagen.
Warmherzige, nicht sentimentale und doch bewegende Geschichte!